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Oscar-Gewinner »The Zone of Interest«: So aktuell wie möglich
»The Zone of Interest« ist ein sehr aktueller Film über die deutsche Vergessenheitskultur
Es ist unklar, ob es der britische Regisseur Jonathan Glazer beabsichtigt hat oder nicht: »Zone of Interest«, sein neuer Film über die Vergessenheitskultur Deutschlands, ist so aktuell wie nur irgend möglich. Auf gewisse Weise ist dieser Film ars poetica, Kunst über Kunst: Eine Erzählung über das Erzählen einer Erzählung. Das Kunstwerk im Zentrum des Filmes ist das Gesamtkunstwerk des normalen Lebens am Rand des Grauens, ohne in den Abgrund hineinzuschauen oder zu hören. Gezeigt wird das Familienleben von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, ohne Bilder aus dem Lager, neben dem sein Wohnhaus liegt, zu zeigen.
Aber dass ein Nichts sich am Rand des Schreckens ereignen kann, ist doch selbst ein Schrecken, und sind wir nicht heutzutage ständig am Rand eines Schreckens? Die Banalität des Bösen ist das Böse; was außerhalb der Mauer von Auschwitz passierte, ist ein inhärenter, wesentlicher Teil des Holocaust. Die zwei Seiten der Mauer ermöglichen einander: dadurch, dass man nicht wissen will, dadurch, dass man das Ungeheure normalisiert, damit es sich in das Vorbild einer Art American Dream einfügt, kann sich das Ungeheure überhaupt ereignen. Und indem das Krematorium weiter rauchte, konnte die Familie Höß – aber auch jede Familie Müller in Berlin oder Stuttgart – sich einen kleinen Traum erfüllen: erfolgreich zu werden.
Es ist klar: Die Familie Höß strebte nach Erfolg. Sobald ihre Mitglieder das, was gesellschaftlich als Erfolg bestimmt wurde, erreichten, waren sie sehr stolz. Stolz, ein weiteres deutsches Wort, das hier eine Rolle spielt. Die Suche, die zu einer Sehnsucht und irgendwann zu einer Sucht wird, nach etwas, worauf man stolz sein kann, erfordert in erster Linie Konformität mit einem System, das sehr deutlich macht, was Erfolg und was Misserfolg ist, wer ein guter Bürger ist und wer ein schlechter, wer stolz sein kann und wer sich schämen muss. Wenn man das System, das Erfolg überhaupt misst, infrage stellt, dann ist es danach schwierig, diesen Erfolg zu ernten.
Das Streben nach Erfolg ist eine völlig menschliche Eigenschaft, aber der Erfolgsbegriff der Bourgeoisie hat ihre kopernikanische Wende noch nicht vollzogen: Erfolg in diesem Sinn wird als natürlich-feststehend und nicht als politisch-dynamisch wahrgenommen. Angeblich gibt es bestimmte, feststehende Dinge, die man tun kann, die diesen Erfolg natürlicherweise mitbringen, während Erfolgsanforderungen tatsächlich Gegenstand politischer Gestaltung sind, die das menschliche Erfolgsstreben für sich zu nutzen weiß. Die Autoindustrie zeigt, wie Erfolg darin besteht, ein großes teures Auto zu besitzen; im Kapitalismus besteht er darin, Geld zu haben, reich zu werden, vieles kaufen zu können. In NS-Deutschland wurde die Welt umorganisiert, damit das, was als Erfolg wahrgenommen wurde, die systematischen Mordfabriken Deutschlands ignorieren konnte – und musste. Die Familie Höß war, wie viele Deutsche zu dieser Zeit, gemäß dieser Definition von Erfolg, erfolgreich.
Auschwitz war der extreme Ausdruck einer mörderischen faschistischen antisemitischen Ideologie und zugleich ein Nebenprodukt des bürgerlichen Strebens nach einem großen Haus mit Garten, zwei blonden Kindern und schöner Natur drumherum. Die Gefahr der substanziellen Nazi-Ideologie haben wir studiert, konfrontiert, uns mit ihr auseinandergesetzt. Aber die Gefahr des bürgerlichen Lebensstils, die uns Hannah Arendt als »Banalität des Bösen« zu vermitteln suchte, dafür brauchen wir anscheinend einen Film wie »Zone of Interest«.
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Der französische Philosoph und Kulturwissenschaftler Jean Baudrillard schrieb in seinem berühmtesten Buch »Simulacres et Simulations«, dass Disneyland als eine künstliche hyperreale Welt existiert, um die Tatsache zu verbergen, dass der Rest der USA ebenfalls Disneyland ist. Auschwitz ist in dem Sinne das Disneyland der Erinnerungskultur. Man geht nach Auschwitz, um zu sehen, zu spüren, zu riechen, wie in einen Tempel. Die grünen Felder der deutschen Dörfer, die weißen Gipfel der Alpen oder die ruhigen Strände der Ostsee erzählen aber diese Geschichte ebenso. Die Geschichte der Gaskammern und Krematorien ist die Geschichte von Gärten mit einem deutschen Schäferhund, von Angeln mit den Kindern am Wochenende, von erfolgreichen Männern und ihren stolzen Hausfrauen. Wie relativ einfach war es all die Jahre, nur nach Auschwitz zu schauen, ohne außerhalb von Auschwitz etwas zu sehen. In vielerlei Hinsicht ist die deutsche Erinnerungskultur eine genaue Umkehr der Realität in »Zone of Interest«. Vielleicht scheint der Film deshalb vielen die »Perspektive der Täter« zu zeigen, weil wir annehmen, unsere entgegengesetzte Perspektive wäre die der Opfer. Aber Erinnerung muss auch Erinnerung an Täterschaft und ihre Normalisierung sein, das macht den Unterschied zwischen Erinnern und Verdrängung aus.
Bewusst nutze ich hier Auschwitz als Synekdoche für alle Konzentrationslager, Ghettos, Holocaust-Mahnmale und Museen. Diese Orte der Erinnerung sind nicht nur räumlich eingegrenzt, sondern auch zeitlich. Weil die Erinnerungskultur sich auf Orte wie Auschwitz konzentriert und nicht auf die Gärten mit Schäferhund und Angeln am Wochenende, greift der verblendende Mechanismus immer noch. So erleben wir gegenwärtig die vielleicht meist dokumentierte Katastrophe unserer Zeit in Gaza. Die Weigerung, hinzuschauen, ist bemerkenswert. Hierbei geht es nicht darum, den Holocaust mit den gegenwärtigen Ereignissen zu vergleichen oder gleichzusetzen, sondern darum, herauszustellen, wie die deutsche Erinnerungskultur Mechanismen des Wegschauens fortsetzt.
Auf dem Filmplakat von »Zone of Interest« sieht man das Haus mit dem Garten und die Mauer. Hinter der Mauer ist ein schwarzes Nichts. Unsere Kultur der Erinnerung macht genau das, was ein schwarzes Nichts im Endeffekt wieder kreiert: Sie nimmt die Praxis der Erinnerung und unterwirft sie dem Erfolgsprinzip – man kann es besser oder schlechter machen, nicht einfach anders. Wenn das so ist, dann will Deutschland – wie im Faschismus, Kommunismus, Fußball oder der Wiedergutmachung – nicht nur besser sein, sondern das Beste. Das Beste zu sein, in Erinnerungskultur erfolgreich zu sein, heißt erneut, dass man den gesellschaftlichen Begriff von Erfolg nicht anzweifeln kann.
Und weil es eine politische Frage ist, was erfolgreich ist und was nicht, auch in der Erinnerungskultur, konnte ein Hubert Aiwanger antisemitische Flugblätter im Rucksack haben und weiter Finanzminister von Bayern sein und sogar stärker aus den darauffolgenden Wahlen hervorgehen. Bayern können Häuser mit Gärten auf dem früheren Gelände des KZ Flossenbürg unterhalten, aber ein israelischer Filmregisseur, der zu Frieden und Gerechtigkeit aufruft, wird als Antisemit bezeichnet. Unsere Konzeption von Erinnerung, von Aus-der-Geschichte-lernen, von Nie-wieder ist politisch geprägt. Dass Erinnerung eine politische Frage ist, ist nicht überraschend und nicht per se schlecht. Aber dass wir den gegenwärtigen Erinnerungsbegriff ohne Zweifel herunterschlucken und dabei Bilder und Videos von zerbombten oder ausgehungerten Kindern zum schwarzen Nichts machen – das ist die Wiederholung eines alten Mechanismus.
Hannah Arendt beschrieb Adolf Eichmann, der zweifellos ein »gesetzestreuer Bürger«, so Arendt, gewesen war, als jemanden, dem, »wie die Monate und Jahre verstrichen, sein Bedürfnis nach Gefühlen überhaupt« schwand. Gefühle brauchte auch das Ehepaar Höß nicht. Der Moment des Erfolgs, wie auch immer dieser definiert wird, füllt eine Lücke da, wo vormals Leidenschaft war. In Wahrheit gelingt der Faschismus da, wo Menschen so langweilig sind, dass sie sich langweilen. Die Leidenschaft, mit der Yuval Abraham und Basel Adra am Ende der Berlinale von Politikern und Presse angegriffen wurden, im Vergleich zu der Gleichgültigkeit, mit der der Schrecken aus Gaza ignoriert und zum schwarzen Nichts wird, sollte uns allen Angst vor der Rückkehr – oder eben der Kontinuität – eines alten Mechanismus machen. Elias Canetti sagte einmal: »Feig, wirklich feig ist nur, wer sich vor seinen Erinnerungen fürchtet.« Jeder soll für sich entscheiden, ob ein Begriff von Erinnern, der ein großes schwarzes Nichts in unserem Verständnis der Welt fordert, ihm oder ihr passt.
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