• Kultur
  • James Ensor in Brüssel

Ich, Jesus Christus

Erst Sozialist, dann Baron und Nationalkünstler: Zwei Ausstellungen in Brüssel zeigen das Werk James Ensors

  • Charlotte Szász
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Mischung aus zarten Pastell- und satten Primärfarben ist charakteristisch für Ensors Werk: »Pierrot und Skelette«, Öl auf Leinwand, 1905
Die Mischung aus zarten Pastell- und satten Primärfarben ist charakteristisch für Ensors Werk: »Pierrot und Skelette«, Öl auf Leinwand, 1905

Gleich zwei Doppelausstellungen sind derzeit in Brüssel zu sehen: Das Bozar und die Königlichen Museen widmen sich dem Surrealismus, der vor etwa 100 Jahren entstand, und ebenfalls im Bozar sowie in der Königlichen Bibliothek Belgiens wird das Werk James Ensors ausgestellt, welches maßgeblich zur Entwicklung des Surrealismus beigetragen hat. Anlass für letztere Ausstellungen ist der Todestag Ensors am 19. November 1949, der sich in diesem Jahr zum 75. Mal jähren wird. Erst spät im Leben fand Ensor seine große institutionelle Anerkennung, wurde dann jedoch vom belgischen König sogar zum Baron ernannt – und das, obwohl seine Kunst einst einen starken sozialistischen Einfluss zeigte. Heute gehört er zu den berühmtesten Künstlern Belgiens.

1860 in Ostende geboren, hatte Ensor laut der Ausstellung »Ensor inspired by Brussels« in der Königlichen Bibliothek eine wegweisende Schaffenszeit in seinen Brüsseler Jahren, wo er 1877 zu studieren begann. Die Bibliothek verfügt über ihr angeschlossene Ausstellungsräume des ehemaligen Museums für Moderne Kunst im Palast von Karl von Lothringen: In diesen Räumlichkeiten hatte Ensor schon 1887 umstrittene Gemälde ausgestellt. Die teilweise sogar interaktive Schau zeigt 75 Werke, vor allem aus den Studien- und frühen Schaffensjahren, wie Aktstudien, Kohlezeichnungen, Radierungen und Kupferstiche. Aber auch etwa das Gemälde »Der Lampenjunge« von 1880: ein Werk im realistischen Stil, auf dem ein Lampenjunge des Nachts die städtischen Laternen anzündet. Es wurde kurz nach seiner Fertigstellung vom belgischen Museum der Schönen Künste gekauft und bezeugt die erste Anerkennung von Ensors Talent.

Die Ausstellung mit dem imposanten Titel »Maestro« im Bozar-Museum zeigt gleich zu Anfang das Bild »Der Einzug Christi in Brüssel« (1888/89): Ein wunder Punkt belgischer Kulturpolitik, denn das Original wurde Ende der 1980er Jahre aus ererbtem Privatbesitz an das Getty Museum in Los Angeles verkauft. Auch hier ist wieder nicht das echte Opus magnum Ensors zu sehen. Die ausgestellte Reproduktion ist kein Ölgemälde wie jenes, sondern ein geknüpfter Wandteppich. Auf einem Pferd reitet Jesus, mit dem Gesicht Ensors, in die Stadt Brüssel ein. Es ist ein politisches Bild, das viele Stile Ensors zusammenbringt. Über der jubelnden Masse steht auf einem das Bild dominierenden Banner »Vive la Social«, ein beliebter Slogan unter Sozialisten der Zeit.

Das Biblische ist ein wichtiger Teil des Werkes von Ensor. Modern werden die Motive aber dadurch, dass der Künstler sie von ihrer religiösen Bedeutung entbinden und symbolistisch aufzufassen beginnt. Geschult an den alten Meistern wie Rembrandt, macht Ensor Jesus zum Symbol des Lichts und identifiziert sich auf einigen Bildern selbst mit dem Heilsbringer. Gleichzeitig versucht er, sich als Revolutionär durchzuspielen, wovon auch andere ausgestellte Werke zeugen.

In der Menschenmasse, die in »Der Einzug Christi in Brüssel« zu sehen ist, gleicht kein Gesicht dem anderen. Viele sind bedeckt von Masken, ein beliebtes Motiv des Künstlers. Denn Belgien war und ist ein sehr katholisches Land und der Karnevalsbrauch nimmt einen großen Platz ein. Feste insgesamt faszinierten Ensor. Überraschend ist zu entdecken, dass er auch Musikstücke komponierte. In der Ausstellung kann man seine Musik zum Ballett »La Gamme d’Amour« hören und die Zeichnungen zur Aufführung anschauen. Gerade diese bunten Zeichnungen in einer Mischung aus Pastellfarben und satten Primärfarben machen Ensor auch rein ästhetisch sehr gegenwärtig.

In einem in der Ausstellung gezeigten Interview schwärmt der Künstler in die Kamera: »Ich liebe es, schöne Wörter zu malen«. Das ist es, was ihn für den belgischen Surrealismus so einflussreich macht, welcher die besondere Verbindung von Wort und Bild untersuchte. Dennoch, in einer Ausstellungskritik schreibt René Magritte 1945 über James Ensor: »Die Themen sind gleichgültig (…). Es ist klar, dass hier nicht wie bei Millet, Courbet oder Manet eine neue Art des Verständnisses der Welt zum Tragen kommt. James Ensors Werk wurde von einer Euphorie ohne Weitsicht und einem gutmütigen Humor geprägt. Es repräsentiert recht gut die Vorstellung vom Glück, das sich die Bourgeoisie um 1900 machen konnte (…) Armer und tapferer James Ensor! Du wurdest zum Baron ernannt und die Bilder, auf denen du deine Jugend besungen hast, sind nun traurige Objekte des Spekulierens geworden.« Die Ausstellungskritik erschien in der Zeitschrift der Kommunistischen Partei Belgiens, »Le Drapeau Rouge«. Der kommerzielle Erfolg, über den sich Magritte lustig macht, ist ein Schicksal, das auch ihn ereilen sollte.

Der Film zeigt Ensor mit fast 90 Jahren nach dem Krieg in Ostende. Er gilt damals immer noch als skurrile Künstlerfigur, als Maler des Unheimlichen, der auch durch seinen solitären Lebensstil mit den Konventionen bricht. Sein Haus in Ostende ist heute ein Museum und sein Leben fasziniert ebenso wie sein Werk mit der Durchmischung von Realität und Fantasie. Die beiden Brüsseler Ausstellungen sind sehenswert – auch wenn die Darstellung von Ensors politischen Überzeugungen insgesamt zu kurz kommt.

»Ensor inspired by Brussels«, bis zum 2. Juni, Königliche Bibliothek Belgiens, und »James Ensor. Maestro«, bis zum 23. Juni, Bozar, Brüssel

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!