Verfahren gegen Letzte Generation betrifft die ganze Gesellschaft

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin verdächtigt die Klimaaktivist*innen der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bald könnte es zur Anklage kommen

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Oktober 2022 warf Mirjam Herrmann zusammen mit einem anderen Aktivisten der Letzten Generation Kartoffelbrei auf ein Gemälde von Claude Monet im Potsdamer Museum Barberini und klebte sich anschließend an die Wand, um auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen.
Im Oktober 2022 warf Mirjam Herrmann zusammen mit einem anderen Aktivisten der Letzten Generation Kartoffelbrei auf ein Gemälde von Claude Monet im Potsdamer Museum Barberini und klebte sich anschließend an die Wand, um auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen.

Das Verfahren gegen die Letzte Generation »ist sehr offensichtlich ein politisches«, sagt Mirjam Herrmann zu »nd«. Die Staatsanwalt Neuruppin in Brandenburg verdächtigt die Gruppe von Klimaaktivist*innen der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Schon im Dezember 2022 ging sie mit elf Hausdurchsuchungen gegen die Letzte Generation vor und wollte das Verfahren eigentlich bereits im vergangenen Jahr abschließen, doch bis Februar dieses Jahres passierte nichts dergleichen. 

»Wir sitzen schon lange auf heißen Kohlen«, sagt Herrmann, die zusammen mit ihren Mitstreiter*innen Henning Jeschke, Lukas Popp, Jakob Beyer und Edmund Schultz voraussichtlich angeklagt wird. Dann sei bei ihren Anwält*innen doch noch eine Akte angekommen: Das 350 Gigabyte umfassenden Dokument liste sämtliche Aktionen auf, die die Aktivist*innen jemals in Brandenburg durchgeführt haben – vom Straße-Blockieren bis zum Pipeline-Abdrehen –, sowie alle Personen, die damit in Verbindung gebracht werden. 

Warum die Staatsanwaltschaft ausgerechnet sie fünf beschuldigt, kann die 26-Jährige nur mutmaßen. Sie selbst erregte öffentliche Aufmerksamkeit, als sie im Oktober 2022 ein Gemälde des französischen Impressionisten Claude Monet im Potsdamer Museum Barberini – beziehungsweise die Verglasung des Bildes – mit Kartoffelbrei beschüttete. Außerdem habe sie als Jurastudentin die Rechtsstruktur der Letzten Generation mit aufgebaut. Henning Jeschke ist als Gründungsmitglied der Gruppe bekannt, die anderen drei Beschuldigten seien beim Abdrehen von Erdölpipelines sehr aktiv gewesen. 

Allerdings soll sich die geplante Anklage nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuches gar nicht gegen konkrete Aktionen richten, sondern gegen die Vereinigung an sich – obwohl das Recht auf Versammlungsfreiheit grundgesetzlich geschützt ist, kritisiert Herrmann. Dass der sogenannte Schnüffelparagraf nun gegen eine friedliche politische Gruppe eingesetzt werde, sieht sie als »Dammbruch« und als Gefahr für die Demokratie. Schließlich ermögliche er sehr weitreichende Überwachungsmaßnahmen gegen jegliche Unterstützer*innen. »Das können auch Leute sein, die nur mal einen Spendenlink geteilt haben.« 

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Niemand von ihnen handele zum eigenen Vorteil, im Gegensatz zu Konzernen zum Beispiel, die das Klima für ihren Profit zerstörten und eigentlich verfolgt werden sollten, findet die Aktivistin. Dass die Bundesregierung, die international für mangelnden Klimaschutz kritisiert werde, nun so viel Zeit und Ressourcen darauf verwende, diejenigen zu kriminalisieren, die darauf aufmerksam machen, sei »unfassbar«. Generell hält sie den Paragrafen 129 in der Formulierung, die eine Anwendung auf gewaltfreie Aktivist*innen, letztlich auf alle Teile der Bevölkerung zulasse, für verfassungswidrig und »eines Rechtsstaates unwürdig«. 

Bis zum 18. März sollen die Beschuldigten zur geplanten Anklage Stellung nehmen, danach fälle die Staatsanwaltschaft Neuruppin ihre Entscheidung. »In der Theorie ist noch alles offen, praktisch halten wir es aber für ausgeschlossen, dass sie sich gegen die Anklage entscheidet«, sagt Herrmann. Schließlich würde eine Anklage untermauern, dass die Razzien rechtmäßig waren – und es würde die Münchner Staatsanwaltschaft bestärken, die ebenfalls den Anfangsverdacht ausgesprochen hat, dass es sich bei der Letzten Generation um eine kriminelle Vereinigung handelt. Inwiefern sich eine Anklage oder mögliche Verurteilung auf ein Bundesland beschränken lässt, wisse man bei der Letzten Generation nicht, sagt Herrmann. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin will sich dazu nicht äußern.  

Die geforderte Stellungnahme delegiert die Letzte Generation an die Gesellschaft: Über die Website der Solidaritätskampagne »Menschen gegen Öl« kann jede*r eine eigene Stellungnahme zu dem Verfahren einreichen und deutlich machen, warum die Kriminalisierung auch die eigene Person beziehungsweise die ganze aktive Zivilgesellschaft betrifft. Bislang sind über 700 schriftliche Stellungnahmen eingegangen, bis Ende März werden sicher noch einige dazukommen. Die Letzte Generation wird diese komplett an die Staatsanwaltschaft Neuruppin weiterreichen, was einerseits den Effekt hat, dass deren Arbeitsaufwand enorm steigt, da sämtliche Texte gelesen werden müssen. Andererseits führt es die Kriminalisierung ad absurdum, wenn diese so breite Teile der Gesellschaft treffen müsste.

Eine ähnliche Strategie hatte die Letzte Generation bereits nach den Hausdurchsuchungen verfolgt, als sie zu Selbstanzeigen aufrief. Über 1000 Unterstützer*innen zeigten sich daraufhin bei der Staatsanwaltschaft selbst an. Auch dazu will man in Neuruppin keine Stellung nehmen. »Mit Blick auf die unverändert andauernden Ermittlungen können Einzelheiten zum hiesigen Verfahrensstand derzeit nicht mitgeteilt werden«, so die Reaktion der Staatsanwaltschaft auf eine nd-Anfrage. 

Wenn es in den kommenden Monaten zu einer Anklage kommt, könnten Herrmann und ihren vier Mitbeschuldigten bis zu fünf Jahre Haft drohen. Als sie das erste Mal davon gehört habe, sei sie geschockt gewesen. Sie baue selbst gerade Gefängnis-Supportstrukturen auf und wisse genau, welche Gewalt in Gefängnissen herrsche. »Das hat mir Angst gemacht.«

Angst habe sie aber auch vor dem Prozess an sich, der sich ein Jahr lang hinziehen könne, in dem sie jede Woche zum Gericht müsste und in ständiger Ungewissheit lebte. Auch die Möglichkeit einer Bewährungsstrafe bereitet ihr Sorgen, da das bedeuten würde, dass sie sich über einen gewissen Zeitraum nichts zuschulden kommen lassen dürfe. Darunter könnten auch politischer Aktivismus oder ihre Rechtshilfearbeit fallen, mit der sie auf keinen Fall aufhören will. »Präsenter als die Angst ist gerade aber die Wut.« 

Doch sie hofft, dass zumindest der Strategiewechsel ihrer Gruppe das zu erwartende Verfahren beeinflussen wird. Anfang des Jahres hatte die Letzte Generation angekündigt, dass sie keine Straßenblockaden mit festgeklebten Händen mehr machen wird. Zudem will sie als sonstige politische Vereinigung bei der EU-Parlamentswahl im Sommer antreten. Für dieses Ziel hat die Gruppe gerade einen wichtigen Schritt erreicht: Freiwillige haben über 8800 Unterschriften gesammelt – doppelt so viele, wie notwendig gewesen wären –, um zur Wahl zugelassen zu werden.

Diese neue Strategie zeige, »dass es nicht unser Ziel ist, Straftaten zu begehen«, betont Herrmann. Ein solches Ziel nachzuweisen, wäre Voraussetzung für die Einstufung als kriminelle Vereinigung. Außerdem hält sie den Vergleich mit den Protesten von Landwirt*innen für »sehr entlarvend«, die in den vergangenen Monaten ebenfalls viele Straßen blockiert und dabei zum Teil lebensgefährliche Unfälle verursacht hatten – ohne dass vergleichbare Konsequenzen folgten. Insofern sei es durchaus möglich, dass die Klimaaktivist*innen freigesprochen werden. Ein wenig Hoffnung ist also auch noch da.  

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