Costa Rica: »Wir befinden uns in einem kritischen Moment«

Der Politikwissenschaftler Pablo Soto Cruz über die Sorge, dass auch das relativ stabile Costa Rica in den Strudel von Bandengewalt geraten könnte

  • Interview: Moritz Osswald
  • Lesedauer: 7 Min.

Selbst die »Schweiz Zentralamerikas« bleibt nicht von der Gewalt der Drogenmafia verschont. Costa Ricas Präsident Rodrigo Chaves hat einen Sicherheitsplan angekündigt. Welche Maßnahmen ergreift das Land nun?

Zwischen 2017 und 2018 erlebte Costa Rica einen Höhepunkt der Gewalt. Sie wurde aber erfolgreich eingedämmt, sodass unser Land wieder auf eine Mordrate zwischen zehn und zwölf Morden pro 100 000 Einwohnern zurückkehrte. Doch seit dem Regierungswechsel 2022 ist die Kriminalität unter Rodrigo Chaves wieder angestiegen. Das hat verschiedene Gründe: Haushaltskürzungen spielten eine Rolle oder auch die Auswirkungen der Pandemie. Der Präsident versucht nun, mit der Erweiterung der Schutzhaft und der strafrechtlichen Verfolgung von Minderjährigen der Sache Herr zu werden. Doch das sind rechtliche Reformen, deren Effekte sich erst in vier oder fünf Jahren zeigen werden. Zudem sind wir eine Demokratie – solche weitreichenden Reformen kommen nicht ohne parlamentarische Diskussion durch.

Es handelt sich also um ein Problem, das bereits länger existiert.

In ihrem ersten Jahr verlautbarte die Regierung Chaves, dass das Problem von der Vorgängerregierung geerbt worden sei. Ein Jahr später, 2023, hieß es, die Kriminellen würden sich nur untereinander töten, die Bevölkerung sei nicht in Gefahr. Jetzt erleben wir aber vermehrt Schießereien vor Schulen und Bildungszentren.

»Die töten sich nur untereinander« kommt mir aus Mexiko sehr bekannt vor. Wer sind Opfer und Täter dieser Eskalation?

Mehr als 60 Prozent der Morde hängen mit dem organisierten Verbrechen zusammen. Präsident Chaves kündigte darüber hinaus eine Aufstockung der Polizeieinheiten an sowie eine bessere Koordination der polizeilichen Ressourcen. Die Gewalt im Land konzentriert sich hauptsächlich auf die Küstenregionen – in Puntarenas und Limón etwa sehen wir die größten Anstiege. Die Opfer sind größtenteils junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren.

Auch mit einer Rate von 17 Morden pro 100 000 Einwohnern steht Costa Rica noch ziemlich gut da. Die nordmexikanische Stadt Colima etwa weist eine Mordrate von 140 auf.

Interview

Pablo Soto Cruz (32) war Berater im Sicherheitsministerium der Regierung Costa Ricas unter Carlos Alvarado Quesada. Er ist Dozent der Universität Uned in Costa Rica und hat sich auf Sicherheitspolitik und Polizeiwissenschaften spezialisiert. Zurzeit forscht und lehrt er mit einem Stipendium in Atlanta, USA.

Im direkten Vergleich innerhalb der Region stand Costa Rica immer ziemlich gut da. Was die Sicherheit betrifft, sind wir in der gesamten Region zwar an zweiter Stelle nach Ecuador. Aber wir befinden uns trotzdem in einem kritischen Moment. Was uns nämlich Sorgen bereitet, ist nicht die absolute Zahl an Tötungsdelikten, sondern dessen Wachstumsrate. In weniger als einem Jahr kletterte die Mordrate von 11 auf 17. Das sind fast 40 Prozent Zuwachs in sehr kurzer Zeit.

Einige ausländische Medien sehen in Costa Rica eine ähnliche Sicherheitsstrategie wie in El Salvador unter dem Quasi-Diktator Nayib Bukele. Ist das nicht leicht übertrieben?

Unser Präsident versucht, an Bukeles Vorgehensweise anzuknüpfen. Das ist eine populistische Strategie, um beim Volk gut anzukommen. Die Maßnahmen Bukeles (vor allem junge Männer werden in El Salvador oft ohne Grund verhaftet, d. Red.) sind derzeit in ganz Zentralamerika populär. Doch Chaves hat weder die Mittel, um die Gefängnisse zu bauen, die er gerne haben würde noch hat er die notwendige legislative Mehrheit, um diese Art von Politik umzusetzen.

Aber die Menschen sehnen sich auch in Costa Rica nach einer Politik der harten Hand?

Rhetorisch stimmen die Menschen diesem Diskurs zu. Deswegen zieht der Präsident auch diese Parallelen in seiner Sicherheitspolitik. Aber ich denke, wenn sich die realen Auswirkungen einer solchen Politik zeigen – Menschenrechtsverletzungen, von der Polizei besetzte Orte, volle Gefängnisse –, dann würde seine Zustimmung sinken.

Der »Bukele-Effekt« existiert also. Strahlt er in die ganze Region aus?

Ja, den gibt es. Allerdings wäre eine solche Umsetzung der Politik hier in Costa Rica kaum denkbar. Wir haben nicht die gleichen Bedingungen. Eine Mehrheit war in El Salvador dazu bereit, für eine Verbesserung der Sicherheitslage eine Verschlechterung der Menschenrechtslage zu akzeptieren. Das wäre hier nicht so.

Das erscheint durchaus verständlich. Wer über viele Jahre extreme Gewalt und Unsicherheit erlebt hat, wird bereit sein, vieles aufzugeben, um wieder in Sicherheit leben zu können.

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Die Strategie Bukeles beschränkt sich nicht nur auf die Politik der harten Hand. Es geht um machtvolles Marketing. Es geht auch um die totale Dominanz der staatlichen Gewalten. In El Salvador hat das funktioniert – das heißt aber nicht, dass dieses Modell in anderen zentralamerikanischen Staaten auch funktionieren wird. Siehe die Präsidentin Xiomara Castro in Honduras. Sie hat das auch versucht – und ist damit gescheitert.

In Honduras gibt es die besondere Situation, dass die linke Präsidentin Castro im Parlament nicht über eine Mehrheit verfügt, um ihre Reformagenda umzusetzen. Inwiefern lässt sich die Situation in Costa Rica aber mit Ecuador vergleichen? Beide Länder waren ja bis vor einigen Jahren als relativ ruhige Staaten in einer unruhigen Region bekannt.

Tatsächlich galt Ecuador viele Jahre lang als Vorbild in Sachen Präventionspolitik. Auch Costa Rica hatte eine ähnliche Dynamik. Uns gelang es mittels großer sozialer Investitionen in die Bildung, die öffentliche Gesundheit und die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Kriminalität niedrig zu halten. Wenn diese wichtigen Elemente der Stärkung des sozialen Gewebes vernachlässigt werden, steigen Risikofaktoren – und das organisierte Verbrechen findet den perfekten Nährboden vor. Wir befinden uns ohnehin in einer schwierigen Lage: Lateinamerika gehört zu den gewalttätigsten Regionen der Welt, hier gibt es die größten Kokainproduzenten und jetzt verbreitet sich auch noch die Droge Fentanyl. Costa Rica ist attraktiv für die Drogenmafia, da wir eine Brücke zu den USA und Europa darstellen. Vieles von dem, was in der Region angebaut und produziert wird, geht über unsere Häfen nach Holland.

Wie wirkt sich das auf den Tourismus aus? Letztes Jahr starben zwei Deutsche, ein Tourist und ein Auswanderer, durch die Gewalt im Land.

In Costa Rica ist der Tourismus von fundamentaler Bedeutung. Es ist eine unserer zentralen Einkommensquellen und macht 6,3 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts aus. Jedes Mal, wenn es zu einem Angriff auf Touristen kommt, ist das ein Schlag für das Image des Landes und unsere Wirtschaft. Wenn die zuständigen Ministerien von Ländern in Europa oder den USA Reisewarnungen herausgeben, trifft uns das.

In einem Interview sagte der amtierende Sicherheitsminister Mario Zamora, Costa Rica sei einfach nicht vorbereitet gewesen auf eine derartige Eskalation der Gewalt. Ist das naiv?

Natürlich ist kein Land je auf sowas richtig vorbereitet. Aber die Vernachlässigung der Sozial- sowie Präventionspolitik und die Inkompetenz der amtierenden Regierung haben Bedingungen für eine steigende Gewalt geschaffen. Auch in die Polizei wurde nicht ausreichend investiert. Leider zeichnet die organisierte Kriminalität eine hohe und schnelle Anpassungsfähigkeit aus. Sie sucht sich wunde Punkte im System. Und Costa Rica hat keine straffe Kontrolle über seine Häfen. Wir haben zum Beispiel keine geeigneten Scanner, um Drogen aufzuspüren.

Die Europäische Union und Costa Rica wollen nun enger zusammenarbeiten. Die Hafenbehörden sollen gestärkt werden, um den Kokainexport einzudämmen.

Das halte ich für absolut notwendig. Es braucht mehr multilaterale Zusammenarbeit. In Europa etwa sind die mexikanischen Drogenkartelle sehr aktiv geworden. Wir brauchen mehr Informationsaustausch, um diese kriminellen Strukturen zu identifizieren. Um herauszufinden, welche Kontakte die Kartelle beispielsweise hier in Costa Rica haben. Unser Land hat noch kein Drogenproblem. Aber in den USA sieht man deutlich, wie dieses Problem einer Nation aus den Händen gleiten kann.

Eine militärische Lösung kann es zumindest nicht geben. Costa Rica hat vor mehr als 70 Jahren seine Streitkräfte abgesetzt – und sticht damit in der Region hervor.

Costa Rica und Panama sind die einzigen Länder in Lateinamerika ohne Militär. Wir sind uns bewusst, dass ein militärischer Ansatz die Probleme nicht lösen wird. Das hat sich immer wieder gezeigt, vor allem in Mexiko. Die Gewinnerseite nach dem Bürgerkrieg 1948 entschied sich aus zwei Gründen gegen ein Militär. Zum einen hatten die Streitkräfte damals nicht die ökonomischen Mittel. Zum anderen, so die Denkweise damals, gäbe es ohne Militär keine Gefahr einer Intervention in die Regierung. Die Abschaffung des Militärs war auch die Initialzündung für die demokratische und pazifistische Kultur, die Costa Rica bis heute leitet. Der damalige Präsident José Figueres Ferrer entschied sich für Investitionen in Bildung, Gesundheit und Kultur – statt in die Streitkräfte.

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