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Russlands Annexion der Krim: Rausch und Repression
Vor zehn Jahren hat Russland die Krim annektiert
Simferopol im Herbst 2006. Der Tisch in der Plattenbauwohnung am Rande der Hauptstadt der Schwarzmeer-Halbinsel Krim ist reich gedeckt für die Gäste aus Deutschland. Nebenbei läuft, wie so häufig in postsowjetischen Haushalten, der Fernseher. Als das Essen beginnt und der erste Toast ausgesprochen wird, senden die Nachrichten eine Rede von Wiktor Juschtschenko, der gut anderthalb Jahre zuvor durch die Orangene Revolution ins Präsidentenamt gekommen war. In Kiew und der Westukraine geliebt, hält sich auf der Krim die Begeisterung für den europaorientierten Staatschef in Grenzen. »Das ist nicht unser Präsident, unserer sitzt in Moskau«, sagt Gastgeber Witalij mit einer abwertenden Handbewegung in Richtung des Fernsehers.
Ähnliche Aussagen erhält man auch in den kommenden Jahren. Egal ob Krankenschwester, Mitreisende im Bus oder Nudisten am Strand. Sie fühlen sich als Russen und verfolgen eher, was im Nachbarland geschieht, als die Ereignisse in der Ukraine. Viele von ihnen kamen zu Sowjetzeiten auf die Halbinsel, zumeist nicht wirklich freiwillig, man hat sie einfach geschickt.
Schon zu Sowjetzeiten gab es Unabhängigeitsbestrebungen
Dabei hatten schon zum Ende der Sowjetunion Aktivisten eine Unabhängigkeit der Halbinsel angestrebt. Nirgendwo war die Zustimmung zur Unabhängigkeit der Ukraine niedriger als auf der Krim. Gerade einmal 54 Prozent der Einwohner begrüßten 1991 im Referendum die Loslösung von der Sowjetunion. Dafür erklärte der Oberste Rat der Autonomen Republik am 5. Mai 1992 die Unabhängigkeit von der Ukraine. Unter Androhung von Strafverfolgung gegen die Krim-Abgeordneten erklärte das Kiewer Parlament den Unabhängigkeitsbeschluss für verfassungswidrig und gab zu verstehen, dass eine Trennung Krieg bedeuten würde. Die Abgeordneten in Simferopol gaben schließlich nach und begruben ihre Unabhängigkeitsbestrebungen.
Auch für Moskau, das gegen jährliche Milliardenzahlungen seine Schwarzmeerflotte in Sewastopol beließ, war der Status der Krim damals eindeutig, zudem vertraglich geregelt. »Die Krim ist kein umstrittenes Gebiet. Russland hat die Grenzen der heutigen Ukraine schon lange anerkannt«, sagte der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin im Jahr 2008. Die »schwierigen Prozesse«, die es damals bereits zwischen russischer, ukrainischer und krimtatarischer Bevölkerung gab, bezeichnete Putin als »innenpolitische Probleme der Ukraine«.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Russischer Rausch
Gut sechs Jahre später waren derart versöhnliche Töne nicht mehr zu hören. Nachdem in Kiew mit Wiktor Janukowytsch beim »Euromaidan« erneut ein russlandfreundlicher Präsident aus dem Amt gejagt wurde, kam es auch auf der Krim zu Unruhen und zu Hilferufen gen Moskau. Es folgten die »Grünen Männchen« – russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, die strategische Punkte besetzten – und ein Referendum über den Beitritt der Krim zu Russland mit 96,5 Prozent Zustimmung. Trotz ukrainischen und internationalen Protestes annektierte Moskau die Halbinsel am 18. März 2014 und versetzte Russland in einen nationalen Rausch.
Viele der freudigen Emotionen, die sich im Anschluss zeigten, waren trotz aller staatlicher Inszenierung echt. Schließlich lag der Sehnsuchtsort vieler Russen nun nicht mehr im Ausland. »Die Krim ist unser«, wurde in Russland zum Slogan, in sowjetischer Tradition wurde für das Ereignis eine eigene Zigarettenmarke auf den Markt gebracht, und Wladimir Putins Beliebtheit schoss in ungeahnte Höhen. 88 Prozent der Russen äußerten sich positiv über ihren Präsidenten. Daran konnten auch die westlichen Sanktionen jahrelang nichts ändern. Erst die Anhebung des Rentenalters nach der Präsidentschaftswahl 2018 führte zu einem deutlichen Rückgang von Putins Popularität.
Moskau investiert massiv
Für die Krim bedeutete die »Russifizierung« ab 2014 vor allem Zuwanderung, die Zuteilung von Geldern und die Einführung neuer Gesetze. Obwohl 100 000 Menschen die Halbinsel Richtung Ukraine verließen, leben laut Statistikbehörde Krymstat heute 200 000 Menschen mehr auf der Krim als 2014. Die ukrainische Helsinki-Gruppe wirft Moskau vor, sogar mehr als 800 000 Menschen in den vergangenen Jahren ans Schwarze Meer gelockt und geschickt zu haben, um die demografischen Verhältnisse der Halbinsel zugunsten der Russen zu verschieben. Woher diese Zahl kommt, ist jedoch nicht nachvollziehbar.
Um die Krim in eine vielbeschworene »blühende Landschaft« zu verwandeln, hat Moskau viel Geld in die Hand genommen und dafür sogar teilweise die Rentenkassen geplündert – sehr zum Unmut vieler Rentner. 1,38 Billionen Rubel (nach aktuellem Kurs 13,8 Milliarden Euro) stellte die Regierung zur Verfügung, um die Infrastruktur auszubauen. Bekanntestes Objekt ist sicherlich die Krim-Brücke, die Putin 2018 mit viel Pomp eröffnete und über deren Zerstörung Deutschlands oberste Luftwaffenoffiziere unlängst diskutierten.
Die Erfolge von Moskaus Investitionspolitik halten sich in Grenzen. Die Gehälter sind seit der Annexion gestiegen und rangieren im Mittelfeld aller russischen Regionen. Auch die wichtigsten Wirtschaftszweige Landwirtschaft und Tourismus konnten zulegen. Nach zwei Rekordjahren liegen die Touristenzahlen selbst im Krieg auf dem Niveau früherer Jahre. Zugleich ist das Leben auf der Krim unter russischer Herrschaft teurer geworden, viele Menschen beklagen zudem die ausufernde russische Bürokratie. Vor allem Immobilienpreise zogen rasant an und erreichen mittlerweile fast Moskauer Höhen. Für Moskau bleibt die Krim nach wie vor ein Zuschussgeschäft, jährlich fließen über 100 Milliarden Rubel (eine Milliarde Euro) auf die Halbinsel.
Halbinsel der Repressionen
Mit Russlands Annexion wuchs auch der politische Druck auf Andersdenkende. Laut der Menschenrechtsplattform OVD-Info ist die Halbinsel repressiver als vergleichbare russische Regionen. Die Uno wirft Russland in einem Papier vor, die Rechte der Einwohner systematisch zu verletzen. Mindestens 104 Menschen seien in den vergangenen zehn Jahren entführt worden, zumeist krimtatarische Aktivisten und Journalisten, die sich gegen die Annexion aussprechen. Insgesamt, so hat es das Online-Medium Wjorstka errechnet, fanden seit der Annexion mindestens 173 »repressive« Verfahren (Extremismus, Fakes, Spionage, Hochverrat) statt. Mit den russischen Gesetzen sind zudem religiöse Gruppierungen wie Hizb ut-Tahrir und die Zeugen Jehovas weit stärkerer Verfolgung ausgesetzt als zu ukrainischen Zeiten. Mindestens 123 Muslime und 32 Zeugen Jehovas wurden laut Memorial Opfer von Repressionen.
Stimmungsmache mit Krimtataren
Kiew hat die Hoffnung auf eine Rückkehr der Krim zur Ukraine bis heute nicht aufgegeben. Um im Ausland die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, setzte die Regierung vor allem auf die Krimtataren. 2016 schickte die Ukraine die krimtatarische Sängerin Jamala zum Eurovision Song Contest nach Stockholm. Ihr Lied »1944«, indem sie die Schönheit der Krim besingt, vor allem aber auf die stalinistische Deportation der Krimtataren im vorletzten Kriegsjahr aufmerksam machte, siegte trotz Kontroverse um den politischen Inhalt. Für Kiew ein propagandistischer Punktsieg, der vergessen ließ, dass man sich selbst jahrelang nicht um die Belange der Minderheit bemüht hat.
In der Ukraine selbst wird bei vielen Gelegenheiten der Krim gedacht. Vor allem Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde in seiner Amtszeit nicht müde, die Re-Ukraininisierung der Halbinsel anzukündigen. »Heute fehlen an unserem Tisch Donezk, Luhansk und die Krim. Und wir unternehmen alles, damit der Tag kommt, an dem sie zurückkehren«, sagte Selenskyj etwa in seiner Rede zum Tag der Unabhängigkeit 2020.
Seit der russischen Invasion im Februar 2022 hat Selenskyj die Rückkehr der Krim als oberstes Ziel ausgegeben. »Wir holen die Krim mit allen Mitteln zurück, die wir für angebracht halten, ohne uns mit anderen Staaten zu beraten«, erklärte der ukrainische Präsident im August 2022 beim Krimplattform-Forum. Vier Monate später verkündete er französischen Journalisten, dass der Kampf in den Köpfen bereits begonnen habe. »Ich glaube, dass im Bewusstsein (der Ukrainer) die Rückeroberung bereits begonnen hat, unsere Entschlossenheit und unser Wille sind bereits vorhanden.« Seitdem wird Selenskyj nicht müde zu betonen, dass er erst mit Russland über ein Ende der Kämpfe reden werde, wenn ukrainische Soldaten die Krim eingenommen haben.
Trotz wiederholter Angriffe ist die ukrainische Armee weit entfernt davon, auf der Krim Fuß zu fassen. Kurz vor dem Jahrestag der Annexion kündigte Kyrylo Budanow, der Chef des Militärgeheimdienstes HUR, eine »eminente Operation« an, deren Erfolg aber selbst von ukrainischen Medien bezweifelt wird.
Russland feiert, aber nicht die Krim
Ungeachtet des Krieges will Russland den 10. Jahrestag der »Wiedervereinigung« groß feiern. Im ganzen Land übertrumpfen sich die Regionen mit Aktionen zum 18. März. In Moskau soll das zentrale Jubelkonzert auf dem Roten Platz stattfinden. Nur auf der Krim selbst wird es ruhig bleiben. Der zehnte Jahrestag sei ein großes historisches Datum, erklärte in einem Interview Krim-Oberhaupt Sergej Aksjonow, der die Annexion vor einem Jahr als »Heimkehr russischer Erde« und »Beginn einer neuen Weltordnung« bezeichnete. Dennoch seien aus »offensichtlichen Gründen« auf der Halbinsel keine großen Festveranstaltungen geplant.
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