Russland unter Putin: Der autoritäre Modernisierer

Auf die soziale Stabilisierung folgte die Krise: Wie sich Russland in Putins Amtszeit verändert hat

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Besonderheit der russischen Präsidentschaftswahlen liegt in ihrer Berechenbarkeit. Niemand zweifelt an einem klaren Sieg Wladimir Putins. Die spannende Frage der dreitägigen Abstimmung wird daher, ob zumindest einer der zugelassenen Gegenkandidaten ein zweistelliges Ergebnis erreichen wird.

Doch der vorhersehbare Ausgang verdeutlicht noch etwas anderes: die tiefe Krise, in der sich das russische Regime befindet. Der Krieg in der Ukraine, die sich verschärfende Konfrontation mit dem Westen, die Abhängigkeit der Wirtschaft vom Rohstoffsektor und die prekäre soziale Lage vieler Menschen sind nur einige der gewaltigen Herausforderungen, die die Regierung in den kommenden Jahren zu bewältigen hat.

Hinzu kommt aus herrschender Sicht ein weiteres Problem: Nach Ablauf der nächsten Amtsperiode wäre Putin 78 Jahre alt. Eine erneute Kandidatur gilt vielen als ausgeschlossen, doch ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Seit dem 31. Dezember 1999 ist Putin Präsident der Russischen Föderation, nur von 2008 bis 2012 übernahm er unter Dmitrij Medwedew den Posten des Ministerpräsidenten. Am Ende der nächsten sechsjährigen Amtszeit stünde er 30 Jahre an der Spitze der russischen Politik. Verglichen damit nimmt sich die 16 Jahre währende Merkel-Ära bescheiden aus.

Die Präsidentschaftswahlen läuten eine Übergangsphase ein, in der sich der russische Machtblock Zeit erkauft, aber angesichts der drängenden Krisen und der internen Machtkämpfe um die künftige Ausrichtung des Landes ist es keineswegs gesichert, dass diese Strategie aufgeht.

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Nach der neoliberalen Schocktherapie

Die mediale Fokussierung auf die Person Putin übersieht oft die Strategie, die er seit seinem Amtsantritt verfolgt: Eine autoritäre Modernisierung des russischen Kapitalismus ohne die aus den 1990er Jahren hervorgegangenen Machtverhältnissen anzutasten.

Wladimir Putin trat seine erste Präsidentschaft auf den Trümmern der neoliberalen Schocktherapie an, die sein Vorgänger Boris Jelzin hinterlassen hatte. Dem US-Ökonom Joseph Stiglitz zufolge waren in den 1990er Jahren die volkswirtschaftlichen Verluste gemessen am Bruttoinlandsprodukt größer als während des Zweiten Weltkrieges.

Extreme Armut sinkt

Nach dem Staatsbankrott 1998 vollzog die neue herrschende Klasse eine partielle Abkehr von der neoliberalen Politik. »Stabilität« und »Ordnung« sollten die chaotische Transformationsphase ablösen. Im Rahmen eines ausgehandelten Machtübergangs verkörperte Putin den politischen Neuanfang und die neugegründete Partei Einiges Russland den lagerübergreifenden Konsens vormals konkurrierender Fraktionen des Machtblocks (regionale Eliten, die aus den Privatisierungsprozessen hervorgegangenen Oligarchen, Manager staatlicher Firmen). In den folgenden Jahren verlagerte die Putin-Administration systematisch Entscheidungsprozesse in die Exekutive und stärkte damit den Staat als das Zentrum der russischen Politik. In dieser veränderten Konstellation übernehmen Staat und Regierung gegenüber den einzelnen Fraktionen des Machtblocks eine vermittelnde Rolle und gegenüber gesellschaftlichen Klassen und deren Organisationen (Arbeiterschaft und Gewerkschaften) die Aufgabe des Zuchtmeisters.

Ein weiterer Schritt hin zu stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen bestand in der Abschwächung der sozialen Gegensätze: Gestützt auf die hohen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport ging die Regierung gegen die extreme Armut im Lande vor. Von 2000 bis 2008 sank der Bevölkerungsanteil mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum von 30 Prozent auf 13,5 Prozent.

Die soziale Stabilisierung war jedoch keine Umverteilungspolitik zugunsten der Transformationsverlierer*innen, sondern im Interesse des herrschenden Blocks. Putins Versprechen zum Trotz, die Oligarchen als Klasse »auszurotten«, erwirtschafteten im Jahr 2007 die 100 größten Firmen fast 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, eine Zunahme um mehr als zehn Prozent im Vergleich zu 2000. Das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung prägte ein stillschweigendes Übereinkommen, wonach ersterer politische Passivität einforderte und im Gegenzug hohes Wirtschaftswachstum und Konsum garantierte.

Politische und ökonomische Wende

Während die ersten beiden Amtsperioden Putins (2000 bis 2008) – gestützt durch hohes Wirtschaftswachstum – die Blütezeit des Regimes darstellen, läutete die Rückkehr der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 eine bis heute andauernde Krisenphase ein.

Aus ökonomischer Sicht äußert sich die Krise in einer anhaltenden Stagnationsphase. Eine wichtige Ursache ist die starke Abhängigkeit vom Rohstoffexport, der unter Putin sogar noch verstärkt wurde. Der Anteil des fossilen Energiesektors (Öl, Gas, Kohle) am Bruttoinlandsprodukt liegt in den vergangenen fünfzehn Jahren konstant bei 20 Prozent. Damit wurde die Entwicklung des Ölpreises zur entscheidenden Frage für das Wohlergehen der russischen Volkswirtschaft.

Die hierzulande weitgehend in Vergessenheit geratenen Massenproteste der Jahre 2011 bis 2013 sind Ausdruck einer umfassenden Legitimations- und Repräsentationskrise. Die Empörung über die ausufernde Korruption und das selbstherrliche Gebaren der Herrschenden kommt in der Formulierung »Partei der Gauner und Diebe« für die Staatspartei Einiges Russland zum Ausdruck. Die Regierung reagierte darauf mit offen repressiven Maßnahmen und der Integration sogenannter national-konservativer Kräfte, die das Kräfteverhältnis im Machtblock deutlich verschoben.

Ein weiterer krisenverschärfender Faktor ist die neoliberale Sozialpolitik der Regierung. Maßnahmen, wie die 2018 beschlossene Erhöhung des Renteneintrittsalters belasten vor allem einkommensschwache Schichten und verstärken die soziale Ungleichheit im Land. Laut einer Studie der Bank Credit Suisse gehört den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 89 Prozent der Vermögen. Dagegen muss jeder vierte Mensch in Russland mit weniger als 300 Euro im Monat auskommen.

Die repressive Politik nach innen, die prekäre soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten und die Interventionspolitik nach außen intensivieren die Krisen in Russland. Davon zeugen die Proteste in der russischen Peripherie, wie die antisemitischen Massenausschreitungen in Dagestan, die Mobilisierung gegen die Verhaftung lokaler Ökoaktivisten in Baschkirien, aber auch Streikbewegungen wie der Lieferdienstgewerkschaft Kurier.

Im Kriegs-Keynesianismus

Im Angesicht der vielfältigen Krisen nehmen auch die Auseinandersetzungen im russischen Machtblock um den politischen Kurs zu. Ein Hinweis darauf ist der gescheiterte Putsch der Wagner-Gruppe. Die sich verschärfenden Konflikte und ihre zunehmend gewalttätige Form werfen die Frage auf, inwiefern Putin die Vermittlungsfunktion zwischen den einzelnen Fraktionen im Machtblock noch ausüben kann.

Unübersehbar ist zudem der Einflussgewinn der national-konservativen Kräfte. Diese verbinden eine repressive, großrussische Agenda mit der Stärkung der einheimischen Industrie, um die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor zu reduzieren. Der wirtschaftspolitische Strategiewechsel der Regierung nach den militärischen Niederlagen in der Ukraine im Sommer 2022 orientiert sich an diesen Forderungen. Die hohe staatliche Nachfrage nach Rüstungsgütern fördert das industrielle Wachstum und stabilisiert die ökonomische Entwicklung, insbesondere in den Regionen jenseits von Moskau und St. Petersburg. Allerdings bleibt der national-konservative Kriegs-Keynesianismus weitgehend auf den Rüstungssektor beschränkt.

Das vorhersehbare Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen in Russland steht im Widerspruch zu der ungewissen Zukunft des Landes. Denn mit der Fortsetzung des Krieges in der Ukraine knüpft der Machtblock sein Schicksal immer enger an dessen ungewissen Ausgang. Die Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Entwicklung Russlands dürften vor diesem Hintergrund noch zunehmen. Offen bleibt, ob einzelne Fraktionen des Machtblocks künftig weiter bereit sind, einen Interessenausgleich hinzunehmen oder auf eine autoritäre Lösung des Konfliktes drängen. Die Strategie, sich durch eine Wiederwahl Putins Zeit in der Nachfolgeregelung zu verschaffen, droht damit zu scheitern.

Felix Jaitner ist Politikwissenschaftler und forscht zur Entwicklung Russlands und des postsowjetischen Raums. Jüngst erschien bei VSA sein Buch »Russland: Ende einer Weltmacht. Vom autoritär-bürokratischen Staatssozialismus mit Ressourcenextraktivismus und Kriegswirtschaft in die Zukunft?«

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