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Das Alter, dieser Schiffbruch
Laure Adler und Elke Schilling greifen ein gesellschaftliches Tabu auf
Bis vor kurzem waren es immer nur die anderen, die alterten. Wie der einstige Kollege, den ich nach Jahren wieder traf oder die Freundin aus dem Studium, die ich ohne Hilfe nicht erkannt hätte. Was war mit ihnen passiert? Das geschah doch nicht etwa auch mit mir? Und wenn doch, dann gab es doch sicher irgendetwas, was dagegen half, dass einem Augen verschwommene Bilder präsentierten, Ohren nicht mehr alles hörten, Knie schmerzten, Falten den Oberlippenbereich kartierten, Haare nicht länger die Kopfhaut verbargen und das Gehirn aus den Informationen, die es bekam, nicht mehr schlau wurde? Eine Tablette oder eine Injektion vielleicht?
Die Antwort ist bekannt: Leider nicht. Genau aus diesem Grund bleibt die ewige Jugend ein Mythos. Sämtliche Versuche, durch emsiges Sporttreiben, den Verzicht auf Alkohol, Tabak, Fleisch und Zucker sowie das künstliche Aufrunden von Lippen oder Wangen verschieben die unangenehme Fahrt im Nachtzug des Alters allerhöchstens ein wenig in die Ferne oder gestalten sie besser erträglich. Verhindern können sie nichts. Der irische Schriftsteller Jonathan Swift – er wurde für die Zeit des Übergangs vom 17. zum 18. Jahrhundert mit 78 Jahren ziemlich alt – resümierte, dass Menschen möglichst lange leben, aber nicht alt sein wollen. Ein Satz, der noch heute gilt. Jeder Mensch steigt irgendwann in diesen Zug und jede Generation in jedem Land der Welt muss sich immer wieder aufs Neue damit beschäftigen, wie das unter den jeweiligen Bedingungen vonstatten gehen kann. Sind die Sitze gepolstert Kann man gut rausschauen? Wie teuer sind die Fahrkarten?
Die französische Autorin Laure Adler hat den Spruch von Pablo Picasso, man müsse schon sehr alt werden, um jung zu sein, mit Geschichten belegt. In denen lässt sie viele alte und sehr alte Frauen und Männer um sich herum zu Wort kommen; Arme und Reiche, Kranke und Gesunde, Fröhliche und Depressive. Meistens sind es Künstler und Literaten. Man spüre sich nicht altern, sagt Adler, die selbst im März dieses Jahres ihren 74. Geburtstag feiert. Und man wisse noch immer nicht, in welchem Alter das Alter eigentlich beginne, und ob es einen Zuwachs an Erfahrungen bringe oder lediglich Schläge gegen die Vitalität. Oder beides, »wir können am selben Tag mehrere Alter haben«, schreibt sie. Natürlich erzählt die Autorin, wie unterschiedlich Gesellschaften mit ihrem alten Teil umgehen, wie die Betreuung den Familien aufgebürdet wird, medizinische Leistungen ab einem gewissen Alter versagt bleiben und Ausgrenzung aus dem Arbeitsleben alltäglich ist.
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Das eigentlich Schöne an diesem Kompendium aber sind die Anekdoten und Geschichten von den Alten selbst und über sie. So tanzte der 93-jährige Essayist Stéphane Frédéric Hessel noch mit 93 auf einer Buchpremiere und berichtete der Autorin, jeden Morgen und jeden Abend ein vorzugsweise langes Gedicht zu rezitieren, um geistig fit zu bleiben. Freud hingegen schrieb im Alter von knapp 70 Jahren an eine Freundin, ihm gefalle es nicht mehr intensiv genug. Eine Kruste von Unempfindlichkeit überziehe ihn langsam. Er starb anderthalb Jahrzehnte später. Auch Charles de Gaulle haderte wohl mit dem Alter. Er soll es als Schiffbruch bezeichnet haben.
Elke Schilling hat in ihrem Buch eine Facette des Alter betrachtet, die Einsamkeit. Sie hat viele Nächte im Büro der von ihr begründeten Telefonseelsorge in Berlin verbracht und Geschichten über Altersprobleme und das Alleinsein gehört. Der Politikerin, Mathematikerin, Unternehmerin und Seelsorgerin – was für eine geniale Kombination! – gelang es, in Deutschland eine Telefonberatung nach dem Vorbild Großbritanniens aufzubauen, die bis heute existiert und einsame Menschen auffängt, insbesondere in der Nacht. Gelesen hatte sie vom Vorläufer eines solchen Dienstes in einem Kriminalroman von Minette Walters, mit der sie daraufhin Kontakt aufnahm. Schilling gründete »Silbernetz«. Das bundesweite Hilfsangebot für alte, einsame Menschen existiert jetzt seit 2014. Es will Türen aus der Isolation öffnen und Angebote machen, den Teufelskreis von Alter, Einsamkeit und Hilfsbedürftigkeit zu durchbrechen.
»Die meisten wollen einfach mal reden«, war die wichtigste Erfahrung der heute 80-jährigen Autorin und wurde zum Titel eines Buches über ihre Arbeit. Darin verknüpft sie Strategien gegen Einsamkeit mit Altersdiskriminierung und zeigt fehlenden Strukturen und bewusste Diskreditierung alter Menschen auf.
Laure Adler: Die Reisende der Nacht. Edition Tiamat, 183 S., br., 30 €.
Elke Schilling: Die meisten wollen einfach mal reden. Westend, 204 S., br., 22 €.
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