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  • Tag der sozialen Arbeit

Berlin: Streiken fürs Soziale

Eltern fordern vom Senat Ende des Kita-Notstands, Sozialarbeiter streiken für Hauptstadtzulage

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 4 Min.
»Wir sind keine Stiefkinder«: Sozialarbeitende in freier Trägerschaft wollen gleich behandelt werden.
»Wir sind keine Stiefkinder«: Sozialarbeitende in freier Trägerschaft wollen gleich behandelt werden.

»Da beißt sich die Katze in den Schwanz«, sagt Sozialwissenschaftlerin Bettina Kohlrausch im Interview mit dem Fernsehsender »RBB«. Sie hat in einer Studie der Hans-Böckler-Striftung die Auswirkungen der Kita-Krise in Deutschland untersucht. »Wir haben keine Betreuung, weil wir Fachkräftemangel haben, und die Leute können nicht arbeiten, weil sie keine Betreuung haben und verstärken damit den Fachkräftemangel.«

Zum Tag der Sozialen Arbeit in Berlin zeigt sich Kohlrauschs Katzenbild in Form verschiedener Aktionen. Um 10 Uhr stehen etwa 40 Menschen vor dem Abgeordnetenhaus. Die Elterninitiative »Einhorn sucht Bildung« und Verdi überreichen dem Senat eine Petition mit 35 000 Unterschriften gegen Personalmangel und Bildungsnotstand in Kitas. Im Anschluss daran streiken Sozialarbeitende der Arbeiterwohlfahrt (Awo) vor dem Roten Rathuas. 700 Menschen nehmen teil und laufen in einem Demonstrationszug vor die Finanzsenatsverwaltung.

»Jeden Morgen checke ich mein Telefon, ob die Kita geöffnet ist«, sagt Constanze Klunker. Sie ist Pädagogin und Mutter. Wie ihr Partner ist sie voll erwerbstätig. Sie steht an diesem Dienstagmorgen vor dem Abgeordnetenhaus, weil sie nicht mehr dem ständigen Druck ausgesetzt sein will, »rumzukoordinieren« oder »die Großeltern um Hilfe bitten zu müssen«, weil der Personalmangel zur Kita-Schließung führt.

»Die aktuelle Situation macht krank«, sagt die Erzieherin Simone Schulze. Sie betreut zwei Kinder mit wesentlich erhöhtem Förderbedarf und drei mit erhöhtem Förderbedarf, eines davon schwerbehindert. Hinzu kämen elf weitere Kinder. Als Schulze spricht, weht durch das Papier, auf dem ihr Redebeitrag steht, ein starker Wind. Ganz selbstverständlich tritt eine Frau zu ihr, hält ihr Mikrofon, damit Schulze ihren Beitrag beenden kann. »Es geht hier heute um die Zukunft unserer Gesellschaft«, so Schulze.

Verwahrung statt Bildung – so zeichnen viele bei der Kundgebung die Situation in den Kitas. In den letzten Monaten standen derweil Tausende Beschäftigte auf den Straßen der Hauptstadt, weil sie ihren Bildungsauftrag gefährdet sehen. Seit November 2020 kriegen Berliner Beamt*innen und öffentliche Angestellte 150 Euro extra im Monat. Mit der sogenannten Hauptstadtzulage versuche der Senat, »gegenüber den besser zahlenden Bundesbehörden in Berlin konkurrenzfähig zu sein«, schreibt Verdi in seiner Pressemitteillung zum Tag der Sozialen Arbeit.

Noch im Dezember hieß es, dass diese Zulage auch für Angestellte freier Träger ausgezahlt werden würde. Letzten Monat zog die Senatsfinanzverwaltung dies in einem Schreiben zurück. »Das geht gar nicht«, findet Max Britzer, Verdi-Gewerkschaftssekretär im Fachbereich Soziales und Bildung. Gleichzeitig erlebe er, dass dieser »Wortbruch« dazu führe, dass das Netzwerk »Freie Träger faire Löhne« von Beschäftigten bei freien Trägern wachse, wie er gegnüber »nd« berichtet.

Angela Bügel-Yakut ist Pädagogin und Teil dieses Netzwerks. »Wir müssen Fachkräfte gewinnen«, sagt sie zu »nd«. »Wir leisten die gleiche Arbeit und verdienen weniger.« Deshalb steht sie heute vor dem Abgeordnetenhaus und beteiligt sich an der Demonstration. Es ginge ihr nicht nur um die Kinder, man hinge als Erzieherin auch »in den Familien und ihren Problemen mit drin.«

Wenige Kilometer entfernt findet der Streik der Awo und Verdi statt. Asmara gehört zu den wenigen, die teilnehmen, obwohl sie nicht bei der Awo beschäftigt ist. Als prekäre Sozialarbeitende im psychosozialen Dienst für Geflüchtete habe sie »fest mit der Zulage gerechnet.« Gemeinsam mit dem Betriebsrat haben sie und ihre Kolleg*innen ihre Geschäftsführung überzeugt, heute mitstreiken zu dürfen. »Zufriedene Mitarbeiter schaffen eben auch bessere Arbeit«, erzählt ihr Kollege Jan.

Auf der Bühne vor dem Roten Rathaus spricht der Awo-Sozialarbeiter Dirk Heinke. »Es ist ein altes Motto: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, ruft er unter Applaus. Im Gespräch mit »nd« sagt er, dass die Hauptstadtzulage nur ein Symptom der Ungleichbehandlung sei. Staatliche Sparvorgaben führten dazu, dass das »Vertrauen in die öffentliche Hand zerstört wurde«.

»Frühkindliche Bildung ist ein essenzieller gesellschaftlicher Bereich, ohne diesen würde hier alles zusammenbrechen.« Heidi Reichinnek ist Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag und nimmt an der Aktion vor dem Abgeordnetenhaus teil. Im Gespräch mit »nd« macht sie auf die feministische Dimension aufmerksam: »Wir sehen immer wieder, dass es nach der Geburt des Kindes Frauen sind, die aus der Arbeit oder in Teilzeit gehen.« Gesellschaftlich müsse man aber dahin kommen, dass Eltern frei entscheiden könnten, wer auf welche Art, welchem Job nachgeht. Denn die Sozialstudie Bettina Kohlrauschs zeigt auch, dass 30 Prozent der befragten Eltern angaben, ihre Arbeitszeit im Zuge der Kita-Krise dauerhaft zurückgestellt zu haben. Überwiegend sind es Frauen.

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