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Entwicklung Russlands: Von wegen Postsozialismus

Der Politikwissenschaftler Felix Jaitner über die Grundlagen des Putin-Regimes und dessen begrenzte Perspektiven am »Ende einer Weltmacht«

  • Interview: Axel Berger
  • Lesedauer: 7 Min.

»Ende einer Weltmacht« heißt Ihr neues Buch über die Entwicklung Russlands in den vergangenen drei Jahrzehnten. Was beschreiben Sie da genau?

Die gesellschaftliche Entwicklung Russlands der vergangenen 30 Jahre ist stark von drei parallel verlaufenden Prozessen geprägt: der Auflösung der Sowjetunion, den Auseinandersetzungen um die politische Herrschaft nach dem Ende des Machtmonopols der KPdSU und dem Übergang von der staatssozialistischen Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Diese drei Prozesse prägen alle vormals staatssozialistischen Länder in Osteuropa und im postsowjetischen Raum, doch im Westen wurden die damit verbundenen Herausforderungen bis weit in die 2000er Jahre kaum wahrgenommen. Ich bin davon überzeugt, dass viele Ursachen für die autoritären Tendenzen und die gewaltsamen Konflikte in diesen Regionen hier zu suchen sind. Am Beispiel Russlands versuche ich, dies näher zu untersuchen.

Im Gegensatz zu vielen, vor allem prowestlichen Beobachter*innen zeichnen Sie ein negatives Bild der Transformationsperiode unter Boris Jelzin. Etwa ist die Rede von einem »Rückzug in die Peripherie«. Können Sie kurz die wirtschaftspolitischen Entwicklungen des Übergangs zu einem Regime erklären, dessen Basis Sie als »Ressourcenextraktivismus« bezeichnen?

Interview

Felix Jaitner ist Politikwissenschaftler mit einem Schwerpunkt zu den Entwicklungskonflikten des russischen Machtblocks sowie ehemaliger nd-Politikredakteur. Zuletzt erschien sein Buch »Russland: Ende einer Weltmacht« bei VSA.

Während Michail Gorbatschow einen dritten Weg zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft anstrebte, verfolgte das Jelzin-Lager das Ziel, durch eine neoliberale »Schocktherapie« die Einführung des Kapitalismus unumkehrbar zu machen. Anders als in China verzichtete die russische Regierung auf einen graduellen Übergang und öffnete den Binnenmarkt für internationale Konzerne. Die Folge war ein rasanter Deindustrialisierungsprozess. In den 90er Jahren ging die Industrieproduktion um 55 Prozent zurück, die soziale Ungleichheit nahm deutlich zu. Die russische Soziologin Natalja Tichonowa schätzt, dass ein Drittel der Bevölkerung im Zuge des Transformationsprozesses verarmte.

Der Begriff der peripheren Weltmarktintegration beschreibt Russlands seitherige Position in der globalen Arbeitsteilung: als Rohstofflieferant für die westlichen Staaten und neuerdings auch China. Die Ausbeutung von Öl, Gas und anderen Rohstoffen erfolgt in erster Linie nicht zur Versorgung der einheimischen Industrie, sondern orientiert sich an der globalen Nachfrage. Dementsprechend gering ist der Weiterverarbeitungsgrad im Innern. Diese extraktive Ausrichtung der russischen Ökonomie hat die sozialen, ökologischen und politischen Widersprüche im Land ungemein verschärft.

Auch in politischer Hinsicht konstatieren Sie für jene Zeit eine autoritäre Wende, die die Grundlagen der Putin’schen »gelenkten Demokratie« gelegt habe …

Ja, denn die russische Elite hat die Auseinandersetzung um wirtschaftspolitische Fragen nie als Teil demokratischer Willensbildung begriffen. Als das Parlament einen graduellen Übergang forderte und Jelzin 1993 schließlich absetzte, ließ dieser es von regierungstreuen Truppen beschießen und setzte im Anschluss eine präsidentielle Verfassung durch. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war der gesellschaftliche Demokratisierungsprozess in Russland gestoppt. Ein Ausdruck der zunehmend autoritären Herrschaft in Russland waren aber nicht nur neue Privatisierungswellen, die auf der Grundlage präsidentieller Dekrete gegen den erklärten Willen des Parlaments erfolgten, sondern auch der Krieg gegen die tschetschenischen Separatisten in den mittleren Neunzigern. In der westlichen Welt stießen diese Entwicklungen jedoch – anders als unter Putin – nie auf ernsthafte Kritik.

Dennoch kam die Jelzin-Periode an ihr Ende.

Der chaotische Transformationsprozess fand seinen Höhepunkt in der Wirtschafts- und Finanzkrise 1998, als Russland zeitweilig zahlungsunfähig war. Innerhalb der Elite führte dies zur Einsicht, dass es einer stärkeren Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse bedürfe. Dieser neue Konsens wurde durch Putin politisch repräsentiert und hat zwei Stützen: die aus den Privatisierungsprozessen hervorgegangene neue Bourgeoisie, die sogenannten Oligarchen, sowie eben ein handlungsfähigerer Staat. Programmatisch für diese Neuordnung ist der Name der neuen Staatspartei »Einiges Russland«. Die Putin-Administration konnte zudem die hohen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport dazu nutzen, die sozialen Verhältnisse im Land zu stabilisieren. Von 2000 bis 2008 ging der Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum von 30 auf 13,5 Prozent zurück. Doch zur selben Zeit stieg auch die Zahl der Dollarmilliardäre von 0 auf 87.

Haben gerade diese Konsolidierungsprozesse eines »staatlich durchdrungenen Kapitalismus« die Konflikte mit dem Westen seit 2007 begründet?

Im Westen gilt üblicherweise Putins Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 als Wendepunkt in den Beziehungen. Aus russischer Sicht setzte dieser Prozess wesentlich früher ein und umfasst zwei Aspekte: Sicherheitspolitik und die periphere Position russischen Kapitals in der internationalen Arbeitsteilung. Die russische Seite hat wiederholt gewarnt, dass die Nato-Osterweiterung die eigenen Sicherheitsinteressen bedrohe und nicht folgenlos bleiben könne. Das Einkreisungsnarrativ durch die Nato bildet eine wichtige Legitimationsgrundlage für die aggressive Außenpolitik, so auch den Angriff auf die Ukraine. In seiner Münchener-Rede kritisierte Putin aber auch die Barrieren für russische Firmen in westlichen Märkten. Der außenpolitische Kurswechsel dient daher auch der Strategie, die internationale Wettbewerbsfähigkeit russischer Firmen zu verbessern. Das wurde mir in Interviews mit staatlichen Vertreter*innen oder Manager*innen großer russischer Unternehmen immer wieder dargestellt.

Sind diese zunehmenden Konflikte mit dem Westen auch ein Grund für die reaktionäre innere Formierung des Regimes?

Teilweise. Ich glaube, dass aber auch die Bedeutung des Protestzyklus 2011 bis 2013 im Zuge der Präsidentschaftswahlen stark unterschätzt wird. Die Regierung antwortete auf die landesweite Mobilisierung einerseits mit verschärfter Repression, andererseits traten staatstragende rechte Kräfte wie der langjährige stellvertretende Ministerpräsident Dmitrij Rogosin in die Regierung ein. Repressive Gesetze zur Begrenzung von Migration, eine zunehmend reaktionäre und großrussische Kulturpolitik, das Verbot von NGOs wie Memorial oder die Zerschlagung der Bewegung des rechten Anti-Korruptionsaktivisten Alexej Nawalnyj verdeutlichen den zunehmenden Einfluss des national-konservativen Lagers in der Regierung.

Sehen Sie aktuell relevante Auseinandersetzungen im russischen »Machtblock«, wie Sie es nennen? Welche Perspektiven werden dort erwogen?

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Das auf Rohstoffexport basierende Wirtschaftsmodell ist sehr anfällig für globale Krisen und lässt die industrielle Basis weiter erodieren. Dies war aus Sicht der Elite kein Problem, solange die EU russisches Öl und Gas abnahm und die Beziehungen gut waren. Doch im Angesicht der sich verschärfenden Konflikte mit dem Westen und des Aufstiegs Chinas wächst die Befürchtung, dass Russland weiter an globalem Einfluss verlieren könnte. Das national-konservative Lager propagiert daher seit einiger Zeit eine Re-Industrialisierungsstrategie, um die Importabhängigkeit im Hochtechnologiegüterbereich zu reduzieren. Damit einher geht die Forderung nach engen wirtschaftlichen Beziehungen mit China, dem postsowjetischen Raum und Ländern des globalen Südens. Die russische Regierung hat diese Forderungen lange Zeit nicht systematisch verfolgt, erst die westlichen Sanktionen haben ein Umdenken bewirkt.

Aktuell scheint sich Russland entgegen vieler Erwartungen zu Beginn des Einmarsches in der Ukraine sowohl politisch als auch wirtschaftlich in der Welt relativ gut behaupten zu können. Was erwarten Sie für die nähere Zukunft?

Eine abschließende Einschätzung der ökonomischen Entwicklung Russlands ist schwierig, da immer weniger Daten öffentlich zugänglich sind. Fakt ist aber, dass die Sanktionen nicht dazu beigetragen haben, Russland zu »ruinieren«, wie es etwa die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock beabsichtigte. Vielmehr kann Russland aufgrund der hohen Nachfrage nach Rohstoffen in Asien den Verlust des bis dahin wichtigsten Exportmarktes, der EU, offenbar verkraften.

Die Verschärfung der Sanktionen und die angestrebte Entkopplung von Russland beschleunigen zudem die Umsetzung der national-konservativen Re-Industrialisierungsstrategie. Die Putin-Administration hat als Reaktion auf die militärischen Niederlagen in der Ukraine im Sommer 2023 einen Strategiewechsel vollzogen: Gestützt auf die hohen Devisenreserven wurde die Rüstungsproduktion hochgefahren. Insbesondere die industrialisierten Regionen Westrusslands und im Ural profitieren von diesen Maßnahmen, zumal aufgrund des Fachkräftemangels – nicht zuletzt eine Folge der Massenflucht nach der beschlossenen Teilmobilmachung – die Löhne steigen.

Allerdings kann der aktuelle Kriegskeynesianismus keine langfristige Antwort auf die strukturellen Krisen der russischen Wirtschaft sein, denn die industrielle Erholung bleibt bisher weitgehend auf den Rüstungssektor begrenzt. Die Regierung diversifiziert zwar ihre Wirtschaftsbeziehungen. Mit Blick auf den wichtigsten Handelspartner China wiederholen sich jedoch die bestehenden Abhängigkeiten: Russland exportiert weiterhin hauptsächlich Rohstoffe und importiert im Gegenzug Maschinen.

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