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Migrationskontrolle: Europas Cordon sanitaire
An der nordafrikanischen Küste errichtet die EU schrittweise die neue Außengrenze
Ein Jahr ist es her, als vor der kalabrischen Küste bei Cutro, nahe der Stadt Crotone, ein Boot mit Geflüchteten kenterte. Heute erinnern 94 Bäume an die Ertrunkenen, den Ort nennen sie »Alis Garten«: Ali ist der Name eines dreijährigen Jungen aus Syrien, der damals sein Leben verlor, wie 33 weitere Minderjährige. »Wir gedenken eines ethischen, rechtlichen und politischen Massakers«, sagte Filippo Sestito von der kalabrischen Antirassismusbewegung bei einer Gedenkveranstaltung Ende Februar. »Aber das Gedenken reicht uns nicht aus. Wir fordern Wahrheit und Gerechtigkeit für all diejenigen, die von der freiheitsfeindlichen Politik überrollt wurden.«
Sestito verurteilte die migrationsfeindliche Politik rechter italienischer Regierungen und die Übereinkünfte, die linksliberale Regierungen mit Mittelmeeranrainern wie Libyen geschlossen haben, um die Migration einzudämmen. Im Fall Cutro ermittelt die Justiz gegen Beamte der Finanzpolizei und der Küstenwache: Es gibt Hinweise, dass die Gefahren für das Schiff unterschätzt wurden.
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Bilder von im Mittelmeer ertrunkenen Kindern, aufgebahrten Särgen oder gekenterten Flüchtlingsbooten will man nicht mehr sehen in Europa. Aber schutzbedürftige Menschen will man auch nicht haben. Was also tun? Strategen der Europäischen Union dachten sich schon vor Jahren, wir lagern dieses Thema aus in die Länder, aus denen die Flüchtlinge nach Europa aufbrechen. Sollen deren Regierungen sich doch darum kümmern, die Menschen an der Abfahrt zu hindern. Was dort mit ihnen geschieht, muss uns nicht interessieren.
Klingt simpel: Die EU-Mitgliedsstaaten müssen nur ordentlich Geld in die Hand nehmen, um diese Länder zur Kooperation bei der Migrationsabwehr zu bewegen. Die Auslagerung des Phänomens Migration in Drittstaaten ist inzwischen gängige Praxis europäischer Länder wie auch der Europäischen Union.
Speziell Deutschland hat beim Thema Migrationsabkommen einen beachtlichen Eifer entwickelt und bilaterale Vereinbarungen getroffen: 2022 hat Deutschland das erste dieser »neuen Migrationsabkommen« mit Indien abgeschlossen, Georgien folgte im Dezember 2023. Erste Vereinbarungen wurden Anfang 2024 auch mit Marokko und Kolumbien getroffen. Mit Usbekistan und Kirgisistan gibt es seit 2023 vorerst nur Absichtserklärungen. Verhandelt wird auch mit Moldau und Kenia, erste Gespräche gab es mit den Philippinen und Ghana. Rücknahmeabkommen existieren seit den 1990er Jahren mit rund 30 Staaten, flankiert durch die Einstufung bestimmter Länder als vermeintlich sichere Herkunftsstaaten.
Die EU folgt diesem Pfad der Externalisierung von Migrationskontrolle und -abwehr, fördert mit Geld Maßnahmen der Mitgliedsstaaten zur Migrationskontrolle. Und mit der Grenzschutz-Agentur Frontex hat Brüssel zudem ein schlagkräftiges Werkzeug zu Hand, das bis 2027 beachtliche 5,6 Milliarden Euro zur Verfügung hat.
Die EU hat in den vergangenen Monaten ihre Anstrengungen intensiviert, Abkommen mit Mittelmeer-Anrainern abzuschließen, damit diese fluchtbereite Migranten von der Überfahrt nach Europa abhalten. Am Anfang stand der 2016 mit der Türkei geschlossene Deal, der vor allem syrischen Kriegsflüchtlingen und Afghanen die Weiterreise nach Europa unmöglich machen sollte: Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind und keinen Anspruch auf Asyl haben, sollen in die Türkei zurückgebracht werden. Für Syrien gilt eine besondere Regelung: Für jeden zurückgeschickten Syrer sollte ein anderer Syrer legal in die EU einreisen dürfen. Die EU bedankte sich bei der türkischen Regierung für die Grenzkontrolle mit insgesamt sechs Milliarden Euro (bis Ende 2019). Mit dem Geld sollten Geflüchtete besser versorgt werden. Dass die Schutzsuchenden in der Türkei rassistisch motivierter Gewalt ausgesetzt sind, war in der Rechnung nicht vorgesehen.
Das EU-Türkei-Abkommen war eine Art Matrize, von der Brüssel Kopien anfertigte: Mauretanien, Tunesien, Ägypten. Stück für Stück entsteht so eine neue politische Landkarte, auf der die EU ihre Kompetenzen bei Grenzkontrolle und -sicherung extraterritorial auszudehnen sucht: Die Staaten, die solche Vereinbarungen unterschreiben, sollen qua Amtshilfe Grenzschützer spielen für Europa – auf ihrem eigenen Territorium; im Gegenzug erhalten sie dafür finanzielle Zuwendungen in Form von Zuschüssen oder Krediten. Europas südliche Außengrenzen verschieben sich so auf den afrikanischen Kontinent.
Inzwischen hat sich der Ring kooperationswilliger Länder rund um das südliche Mittelmeer immer enger gezogen. Nach der Türkei 2016 fand die EU im Juli vergangenen Jahres eine Übereinkunft mit Tunesien, im März dieses Jahres wurde ein Abkommen mit Mauretanien unterzeichnet. Im EU-Sprachgebrauch ist von »Migrationspartnerschaft« und »Migrationsdialog« die Rede. Mauretanien soll laut einer Pressemitteilung 210 Millionen Euro erhalten, unter anderem für »Migrationsmanagement« und die »Bekämpfung der Schleuserkriminalität«. Tatsächlich erreichten fast 1000 mauretanische Flüchtlinge in diesem Jahr Europa, das Land liegt damit auf dem dritten Platz hinter Mali und Senegal.
Am vergangenen Wochenende folgte dann mit Ägypten der vorerst letzte Streich in Sachen Migrationsbekämpfung. Bleibt noch Marokko, mit dem die EU im Dezember grobe Linien für einen zukünftigen Migrationspakt vereinbart hat. Die Verhandlungen dazu zogen sich über sieben Jahre hin, die Umsetzung dürfte noch dauern, meinte Camille Le Coz, Vize-Direktorin des Migration Policy Institute Europe, gegenüber der Deutschen Welle: »Derzeit haben wir eine politische Vereinbarung, auf deren Grundlage die EU Budgets und Personal mobilisieren wird, um die entsprechende Infrastruktur zu schaffen«, so Le Coz.
Wie wichtig der EU dieses Abkommen ist, zeigt sich daran, dass der Leiter von Frontex, Hans Leijtens, seine erste Reise außerhalb Europas nach Marokko unternahm. Einer Pressemitteilung zufolge geht es unter anderem um Zusammenarbeit beim Austausch von Wissen und Praktiken bei Rückkehr und Wiedereingliederung von Migranten und um die Aufgaben der Küstenwache. Im Blick hat Europa vor allem die Flüchtlinge, die von Marokkos Westküste am Atlantik aufbrechen zu den Kanarischen Inseln: zwischen Januar und November 2023 geschätzt knapp 57 000 Personen.
Was Europa im Gegenzug dafür springen lassen muss, ist nicht genau bekannt. Geld steht wohl nicht im Vordergrund, sondern politische Zugeständnisse an die Regierung in Rabat: Die EU soll den – vom Völkerrecht nicht gedeckten – Anspruch Marokkos auf die Westsahara unterstützen. »Im Gegenzug unterstützt Marokko die europäische Flüchtlingspolitik«, sagte Sonja Hegasy, Vize-Direktorin des deutschen Forschungszentrums Leibniz-Zentrum Moderner Orient gegenüber der »Deutschen Welle«.
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