Bahnen und Schiffe wie von Geisterhand gesteuert

Immer häufiger werden Bahnen und Schiffe ferngesteuert betrieben. Doch es gibt Grenzen des autonomen Fahrens

  • Martin Reischke
  • Lesedauer: 8 Min.

Mit etwas Glück ist eine Fahrt mit der Hamburger S2 eine Reise in die Mobilität der Zukunft. Raus aus dem Zentrum geht es Richtung Osten, erst nach Bergedorf, dann weiter nach Aumühle. Hier fahren die ersten hochautomatisierten S-Bahnen Deutschlands. Doch der technische Fortschritt kommt auf ziemlich leisen Sohlen. »Die Automatisierung ist für den normalen Fahrgast nicht unbedingt erkenntlich«, sagt Christoph Gonçalves Alpoim, Leiter des Projekts Digitale S-Bahn Hamburg. Denn egal, ob im automatisierten Fahrbetrieb oder ganz traditionell per Hand gesteuert – auf dem Weg zur nächsten Station surren die rot lackierten Wagen einfach immer leise vor sich hin.

Ganz so neu wie es scheint sind automatisierte Züge allerdings nicht. Im nordfranzösischen Lille fahren die U-Bahnen schon seit rund 40 Jahren vollautomatisch, und auch zwei U-Bahnlinien in Nürnberg sind schon seit vielen Jahren ohne Fahrer unterwegs. Warum also die Aufregung um die vollautomatisierte S-Bahn in Hamburg, wo zur Sicherheit sogar noch ein Triebfahrzeugführer im Führerstand sitzt? »Metrosysteme sind meistens in sich geschlossene Systeme mit einer isolierten Infrastruktur und isolierten Fahrzeugen, die da verkehren«, erklärt Gonçalves Alpoim. Das abgeschlossene System, noch dazu meist in Tunneln unter der Erde, reduziere mögliche äußere Einwirkungen und mache es vergleichsweise einfach, das Fahren zu automatisieren. »Eisenbahnen verkehren dagegen in offenen Systemen, die immer den transeuropäischen Verkehr im Blick haben«, sagt der Digitalisierungsexperte. »Es muss also bei jeder Eisenbahnstrecke die Möglichkeit geben, dass auch Güterzüge oder Eisenbahnen aus anderen Ländern auf der gleichen Infrastruktur fahren.«

Tatsächlich ist technische Entwicklung für das autonome Fahren bei Eisenbahnen schon weit fortgeschritten. Einen wichtigen Baustein bildet dabei die Anwendung »ATO over ETCS«, die aus zwei europaweit standardisierten Systemen besteht: dem europäischen Zugsicherungssystem ETCS und dem automatischen Fahrbetrieb ATO. ETCS überwacht die Geschwindigkeit der Züge und sorgt dafür, dass sie im Notfall schnell und sicher gestoppt werden können. ATO kümmert sich um den Rest: Anfahren, Bremsen, Türen öffnen und wieder schließen – alles automatisch. Vor der Einführung im Jahr 2022 hat die Hamburger S-Bahn zusammen mit der Stadt in einer Studie überprüfen lassen, welche Vorteile das neue System mit sich bringt. Die Ergebnisse hätten ihn überzeugt: »Wir haben 30 Prozent mehr Kapazität auf der bestehenden Infrastruktur und 40 Prozent weniger Zugfolgeverspätungen«, sagt Gonçalves Alpoim. »Das heißt, ich habe mehr Kapazität, die ich nicht nur dafür nutze, mehr Züge fahren zu lassen, sondern auch, um einen stabileren Bahnbetrieb zu realisieren.«

Nur: Wenn der Lokführer die Fahrt nur noch überwachen muss – warum sitzt dann überhaupt noch ein Mensch im Führerstand? »Für uns ist die Vollautomatisierung ein Sprung zu groß«, sagt Gonçalves Alpoim. »Außerdem würde es zu lange dauern, ohne dass wir mehr Kapazität oder Zuverlässigkeit im Bahnbetrieb schaffen würden.« Denn die Hürden für den sogenannten vollautomatisierten Betrieb – also fahrerlose Fahrten – sind im Bahnverkehr sehr hoch: Zum einen bräuchte man zusätzliche Technik wie eine funktionierende Hinderniserkennung auf der Strecke. Zum anderen ist der vollautomatisierte Bahnbetrieb in Deutschland anders als bei U-Bahnen bisher im Regelbetrieb noch gar nicht erlaubt. Und ob überhaupt Personal eingespart werden könnte, wenn die S-Bahn sich komplett selbst steuern würde, ist gar nicht sicher. Das zeigen auch die Erfahrungen mit der vollautomatisierten U-Bahn in Nürnberg: Den Einsparungen bei den Lokführern steht dort mehr Personalaufwand in den Leitstellen und in der Kontrolle der Bahnhöfe gegenüber.

In Hamburg fährt die S2 bereits ohne Lokführer im Regelbetrieb.
In Hamburg fährt die S2 bereits ohne Lokführer im Regelbetrieb.

Deshalb sieht Dirk Flege den Beruf des Lokführers in absehbarer Zeit auch nicht vom vollautomatisierten Fahren bedroht. »Selbst wenn es auf dem gesamten deutschen Schienennetz technisch möglich ist, glauben wir nicht, dass es in den nächsten zehn oder 20 Jahren praktiziert wird, weil die Menschen das Bedürfnis haben, im normalen Eisenbahnverkehr Personal ansprechen zu können«, sagt der Geschäftsführer des Eisenbahn-Lobbyverbandes Allianz pro Schiene. Das gelte vor allem für lange Strecken oder Fahrten wie mit dem ICE, wo die Anwesenheit eines Lokführers den Passagieren Sicherheit vermittele. »Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir bei hoher Geschwindigkeit eher ängstlicher sind, als es von der reinen Unfallstatistik her angebracht wäre«, sagt Flege. Schon 2018 war auch ein vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt zu dem Ergebnis gekommen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz fahrerloser Züge im Hochgeschwindigkeitsverkehr gering sein dürfte; zudem stünde dem Einsparpotenzial durch weniger Zugpersonal ein hoher zusätzlicher technischer Aufwand gegenüber.

Bahnexperte Flege sieht dennoch große Chancen für das vollautomatisierte Fahren auf der Schiene: »Da gibt es spannende Pilotversuche, dass sogar auf stillgelegten Strecken in beide Fahrtrichtungen einzelne Kapseln völlig autonom und fahrerlos in ländlichen Regionen Passagiere nach Bedarf und Anforderung transportieren können«, so der Bahnexperte. Flege denkt dabei an Projekte wie das Monocab, eine selbstfahrende Einschienenbahn, die stillgelegte Gleise wieder zu neuem Leben erwecken könnte und nach ersten Testfahrten schon in wenigen Jahren in Nordrhein-Westfalen zum Einsatz kommen soll.

Doch die rechtliche Lage ist kompliziert: In der Bau- und Betriebsordnung der Straßenbahn ist das vollautomatisierte und fahrerlose Fahren erlaubt – die Verordnung gilt allerdings nur für geschlossene Systeme wie etwa U-Bahnen, die auf eigenen Gleisen verkehren. In der Bau- und Betriebsordnung der Eisenbahn ist es dagegen untersagt. Gründe dafür gibt es viele: Eisenbahnstrecken sind komplexer, es gibt mehr zu bedenken: Hier fahren verschiedene Fahrzeuggattungen auf derselben Strecke, Fern- und Nahverkehrszüge ebenso wie Güterzüge. Das erschwert die Automatisierung. Außerdem sind die Strecken im Gegensatz zu U-Bahnen in Tunneln anfälliger für Einwirkungen von außen wie umgestürzte Bäume oder Sturmschäden an Oberleitungen.

Sorgen um die rechtlichen Hürden kennt auch Rupert Henn sehr gut – schließlich ist auch in der Binnenschifffahrt das vollautomatisierte Fahren im Regelbetrieb bisher nicht zugelassen. Wie bei der Eisenbahn wird aber auch hier schon lange an Konzepten geforscht, die den Transport von Personen und Waren vereinfachen sollen, etwa durch die Fernsteuerung von Schiffen. »Technisch funktioniert das, aber genehmigungsrechtlich ist es noch nicht möglich«, sagt Henn, Geschäftsführer des Entwicklungszentrums für Schiffstechnik und Transportsysteme in Duisburg.

Ferngesteuertes Fahren könnte etwa ein Mittel gegen den weit verbreiteten Fachkräftemangel in der Binnenschifffahrt sein. »Wenn man den Beruf des Schiffsführers an Land verlagern kann, könnte das seine Attraktivität steigern und junge Menschen dazu bringen, sich mehr für den Job zu interessieren«, glaubt Henn. Schließlich ist der Beruf heute mit langen Bordzeiten fern von Zuhause verbunden – viele potenzielle Nachwuchskräfte haben darauf keine Lust. Die Idee der Fernsteuerung scheint da ein guter Ausweg zu sein. Doch wie lenkt man ein Schiff vom Schreibtisch aus? »Die Steuerung und Übertragung sind internetbasiert; der Schiffsführer schaut sich die Livestreams seiner Kamera und seine Radarbilder an«, erklärt Henn. »Alle Informationen, die er sonst an Bord hat, hat er nun eben an seinem Arbeitsplatz an Land.«

Doch noch sind viele Fragen ungeklärt: Was passiert etwa mit dem ferngesteuerten Schiff, wenn das Internet ausfällt? Zwar nutze das System verschiedene Provider für den Internetzugang, auf einen Komplettausfall sei es aber noch nicht eingestellt, sagt Henn. Hier arbeite man daran, wie das Schiff automatisch in einen sicheren Zustand gebracht werden könnte. Die Tests in einem Pilotprojekt auf dem Rhein mit einer großen Reederei liefen jedenfalls vielversprechend. »Schiffsführer, die den Schiffstyp schon kennen, brauchen nur wenige Stunden, um sich mit dem neuen System vertraut zu machen, dann sind sie in der Lage, das zu steuern«, sagt der Ingenieur. »Die wären zwar lieber an Bord und möchten gern das Vibrieren des Schiffes spüren, weil sie das halt so gewohnt sind. Aber die Steuerung können sie auch von Land übernehmen.«

Die Entwicklung hin zum vollautomatisierten Fahren auf dem Wasser verläuft kontinuierlich – und eigentlich ziemlich unspektakulär. »Es gibt Assistenzsysteme, die jetzt schon an Bord sind«, sagt Rupert Henn. Dazu zähle etwa eine Art Autopilot oder ein Kollisionswarnsystem. »Und wenn man diese Assistenzsysteme zusammenführt, hat man im Grunde das vollautomatisierte Schiff.« Das könnte dann etwa bedeuten, dass Binnenschiffer in längeren Schichten als heute unterwegs sein dürfen. »Man könnte sich vorstellen, dass ein Schiffsführer dann nur noch zur Überwachung an Bord ist und die Automatisierung die eigentliche Arbeit des Steuerns übernimmt«, so Henn. Die Maschine fährt, der Mensch überwacht – das sei schließlich schon heute die Realität auf vielen Schiffen.

Da klingt Rupert Henn ein bisschen wie Christoph Gonçalves Alpoim, der Leiter der digitalen S-Bahn Hamburg. Denn egal ob Bahn oder Binnenschiff – auch wenn automatisiertes Fahren die Zukunft ist, hat der Mensch noch lange nicht ausgedient. »Es wird Schiffe geben, die aus vielerlei Gründen noch Personal an Bord haben – und es wird andere Schiffe geben, die man sich als reinen Transportkörper vorstellen kann, der einfach Container von A nach B bringt«, prophezeit Rupert Henn. »Wir werden noch für lange Zeit gemischte Verkehre haben, vielleicht sogar für immer.«

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