Linke in den USA: »Früher gab es mehr Konsens«

Die linke US-Organisation DSA verliert viele Mitglieder und befindet sich im Niedergang

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Prominenz von Bernie Sanders und seinen beiden Präsidentschaftskandidaturen 2016 und 2020 bescherten der DSA einen Mitgliederzuwachs. Doch inzwischen gibt es viel Streit in der Organisation.
Die Prominenz von Bernie Sanders und seinen beiden Präsidentschaftskandidaturen 2016 und 2020 bescherten der DSA einen Mitgliederzuwachs. Doch inzwischen gibt es viel Streit in der Organisation.

Was ist aus den Demokratischen Sozialisten von Amerika (DSA) geworden? Vor ein paar Jahren noch galt die Organisation als Hoffnungsträger eines amerikanischen Sozialismus. Die vergangenen Monate bescherten ihr aber keine guten Nachrichten. Im November traten fast 30 teilweise prominente Linke aus Protest gegen positive DSA-Reaktionen auf die Hamas-Anschläge in Israel mit einem offenen Brief aus der Organisation aus. Im Januar erklärte die politische Direktorin Maria Svart, die DSA über mehr als zehn Jahre zusammengehalten hatte, ihren Rücktritt. Und im Februar gab die Gruppierung einen beträchtlichen Mitgliederschwund bekannt.

Rund 78 000 beitragszahlende Mitglieder hatte die DSA nach eigenen Angaben diesen Februar, gut 15 000 weniger als auf ihrem Höhepunkt 2021. Worauf der Schwund zurückgeht? Das hatte mit der Amtsübernahme des im Jahr davor gewählten Präsidenten Joe Biden zu tun und mit der Frustration, an der viele DSAler nach der Vorwahlkampf-Niederlage von Bernie Sanders litten. Aber nicht nur das, sagt die kalifornische Anwältin Renée Paradis, die seit 2017 Leitungspositionen in der DSA wahrnimmt. »Auf Bernies Niederlage folgte direkt die Covid-Pandemie. Man konnte nur noch mit nervigen Zoom-Konferenzen kommunizieren, und jede und jeder für sich allein zu Hause.« Politische Klärungsprozesse, die vor der Pandemie in Gemeindezentren, Bibliotheken oder Universitätsräumlichkeiten möglich waren, verlagerten sich zwangsläufig ins Virtuelle ohne ein soziales Miteinander. Einhergehend damit wurde die politische Kultur immer rabiater. Dem oder der anderen aus der Anonymität heraus »Opportunismus« oder gar »Verrat« vorzuwerfen, wurde auf einmal möglich und zog keine Konsequenzen nach sich. Austritte erfolgten aber auch, weil sich manche vom harschen, ideologisierten Duktus neu dazugekommener marxistisch-leninistischer Kleingruppen abgestoßen fühlten, sagt Paradis.

Ein kurzer Rückblick: Nach der Nominierung von Bernie Sanders zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten im Jahr 2016 strömten Tausende junge Menschen in die DSA. Zuvor hatte die 1982 gegründete Organisation, die klassisch sozialdemokratische Positionen innerhalb der Demokratischen Partei und in sozialen Bewegungen vertreten hatte, jahrelang konstant etwa 5000 Mitglieder. Sanders bezeichnete sich öffentlich als demokratischer Sozialist, konnte sich aber parteiintern nicht gegen Hillary Clinton durchsetzen, die wiederum gegen Trump verlor – was viele junge Leute von den Demokraten enttäuschte, der DSA aber Zulauf verschaffte. Dann aber musste Bernie Sanders 2020 im Vorwahlkampf der Demokraten erneut weichen: Joe Biden machte das Rennen und setzte sich schließlich gegen Trump durch.

Die Frage, was die DSA heute eigentlich darstelle, beantwortet David Duhalde, Leiter des DSA Fund, mit Bedauern. Die Gruppierung bewege sich auf ungute Weise »weg von einer nationalen Organisation hin zu einem lose zusammengehaltenen Bündnis«. Auf der Leitungsebene existiere eine Koalition von Fraktionen, die um Einfluss ringen, sowie von verschiedenen Arbeitsgruppen, die kaum zusammenarbeiteten, sondern thematisch lediglich eine Arbeitsteilung betrieben. Und schließlich bestünden große politische Unterschiede zwischen verschiedenen DSA-Ortsverbänden. »Früher, als die DSA viel kleiner war, gab es mehr Konsens«, sagt Duhalde, der vielen als das Gesicht des Antikapitalismus in den USA gilt, »wenn du jemand von der DSA getroffen hast, wusstest du, wo dieser Mensch politisch steht.«

Das höchste Entscheidungsgremium der DSA ist der Nationale Konvent. Auf dem alle zwei Jahre stattfindenden bundesweiten Treffen von gewählten Delegierten örtlicher und regionaler Gruppen werden politische Richtungsentscheidungen getroffen. Außerdem werden 16 Vertreter*innen des Nationalen Politischen Komitees (NPC) gewählt, das zwischen den bundesweiten Treffen den Vorstand führt. Im August letzten Jahres ergab sich dabei eine bemerkenswerte Veränderung der Kräfteverhältnisse. »Die alte DSA-Garde wurde erstmals zu einer Minderheit«, erklärt David Duhalde. »Die Mehrheit innerhalb der DSA stellen jetzt Leute, die sich von einer sozialistischen Wahl- und Gesetzgebungspolitik distanzieren.« Ultralinke, teils leninistisch orientierte Gruppen stellen zehn Sitze, die übrigen sechs Vertreter*innen befürworten eine Massen- und Bündnispolitik. Zu den Sektierern gehört eine Fraktion namens Marxist Unity Group mit zwei Sitzen. Als Kaderorganisation erhebt sie für ihre Mitglieder Gebühren außerhalb der DSA. Drei Sitze hat die Fraktion »Bread and Roses« inne, eine Gruppierung, die vor wenigen Jahren nach der Auflösung der trotzkistischen »International Socialist Organization« zusammengefunden hatte. »Red Star«, »Chavista International« und »Anti-Zionist Slate« nennen sich weitere marxistisch-leninistische-Fraktionen mit insgesamt fünf Sitzen.

Doch nicht nur die Neuzusammensetzung des NPC hat für Verwunderung gesorgt. Duhalde nennt die Ablehnung eines Entwurfs, der die Unterstützung der linken Kongress-Mitglieder im Wahlkampf vorsieht. So wird sich die DSA nicht für die von rechten Herausforderern in Bedrängnis geratenene Linke wie Cori Bush im Bundesstaat Missouri starkmachen, weder politisch noch personell. Die DSA wird sich so oder so nicht im Präsidentschaftswahlkampf auf die Seite von Joe Biden stellen. Führungsmitglieder der marxistisch-leninistischen Gruppen schlugen diesbezüglich mit Blick auf die US-Waffenlieferungen an Israel im Gaza-Krieg sogar die Wahlparole »No vote for genocide« (Keine Stimme für den Völkermord) vor, die sich vor allem gegen die Demokraten richtet. Dass die Alternative zu Biden bei der Präsidentschaftswahl im November unweigerlich Trump heißt, bleibt unerwähnt. Mit Spannung wird die DSA-Wahlempfehlung erwartet, die der NPC bis Ende April veröffentlichen will.

Die New Yorker Feministin Jessica Benjamin, die seit 2016 DSA-Mitglied ist, war über die rabiaten Parolen erschrocken, die in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober seitens der DSA auch in New York um sich griffen. Die Slogans »Free Palestine« oder »From the River to the Sea« waren ihr zwar nicht neu. Schließlich war sie jahrelang in der Palästina-Solidaritätsbewegung wie auch in der Westbank selbst aktiv. Aber die Vehemenz, mit der die Hamas-Terroranschläge in Israel von Teilen der jüngeren Szene kleingeredet wurden, stieß auch ihr auf. Trotzdem blieb sie bei der DSA. Denn die Organisation setze in New York das fort, was sie ursprünglich zum Beitritt bewegt hatte. Sie schätzt das kommunale Engagement bei der Wohnungs-, Bildungs-, Energie- und Green-New-Deal-Politik, aber auch das Eintreten für bundesweit relevante Forderungen wie ein staatliches Krankenversicherungssystem. Vor allem aber, dass die DSA weiterhin im New Yorker Wahlkampf aktiv ist, findet sie gut.

Unbehagen bereitet Benjamin allerdings die Neigung zum Sektieren, die sich »in DSA-Ortsgruppen außerhalb von New York breitmacht«. Marxistisch-leninistische Gruppen würden gezielt »Leute aus der DSA abwerben und zu ihren eigenen Formationen lotsen – mit dem Ziel, eine Avantguarde-Partei aufzubauen«. Junge DSAler seien »zu unerfahren, um das zu durchschauen«, meint sie. Ohnehin sei die DSA-Führung von Anfang an vom Zustrom so vieler Menschen überfordert gewesen. »Es gab zwar Maßnahmen, die den Einfluss von Sektierern zu blockieren versuchten, aber sie durchzusetzen, war nicht möglich.« Die Psychoanalytikerin sieht ein weiteres Problem in der Identitätspolitik, der auch die neue »Free-Palestine«-Bewegung verfallen sei. Sie entfalte »ein Schwarz-Weiß-Denken jenseits der Täter-Opfer-Dichotomie«, theoretisch nur schwach begründet im Schlagwort vom Siedlerkolonialismus. Letztlich mache die Kombination aus dem marxistisch-leninistischen Sektiererwesen und der Identitätspolitik eine antikapitalistische Politik unmöglich, schließt die Psychoanalytikerin.

Die DSA sei nicht »die US-Linke«, sagt der Brooklyner Altlinke Ethan Young, der seit mehr als 50 Jahren politisch aktiv ist. Die Linke in den USA bestehe aus progressiven sozialen Bewegungen, linken Akademiker*innen und Kulturschaffenden. Sie sei eine uneinheitliche Kraft in der US-amerikanischen Gesellschaft. Die DSA habe im Rahmen der Bernie-Sanders-Wahlbewegung und danach gute Aussichten gehabt, zu einer größeren Sammelbewegung zu werden und dafür Organisationsformen geschaffen. Die Chance sei aber vertan worden. Denn die Gruppierung kappe die Verbindungen zum politischen Zentrum und bewege sich ins Abseits. »Die DSA ist bereits am Wanken, und es wird noch schwieriger für sie«, befürchtet er. »Egal, wie die Präsidentschaftswahl ausgeht.«

Ein nicht unwahrscheinlicher Trump-Sieg werde die gesamte Linke, inklusive der DSA, nicht nur zum Umdenken, sondern zur kompletten Neupositionierung und Umgruppierung zwingen», prognostiziert Young. Denn das rechtsextreme Make-America-Great-Again-Spektrum werde alles vermeintlich oder wirklich Linke ins Visier nehmen. Repressionen drohten, die bestehende Probleme der Organisation noch verschärfen würden. Und ein Biden-Sieg? «Dann wird ein Großteil von der DSA auf das weitere Absetzen von der politischen Mitte drängen», meint Young. Damit werde die Rechte und extreme Rechte weiter ignoriert, obwohl sie einflussreich ist. Immer wenn Young in den letzten Monaten über die DSA nachdenkt, fühlt er sich an einen alten Comic erinnert: Die Figur, die voller Inbrunst an dem Ast sägt, auf dem sie sitzt.

Nicht immer sind die Diskussionen an der DSA-Basis so harmonisch wie beim Picknick in Indianapolis.
Nicht immer sind die Diskussionen an der DSA-Basis so harmonisch wie beim Picknick in Indianapolis.
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