Schokolade - Die zarteste Versuchung

In der Schokolade liegt der kulturelle Inbegriff von Lust und Schuld. Aber warum muss Genuss eigentlich eine Sünde sein?

Notwendigerweise bekommt man es in der bürgerlichen Gesellschaft immer mit einem schlechten Gewissen zu tun. Haben Sie genug Sport getrieben, sich gesund genug ernährt, ein Leben lang gelernt und dabei aber auch ausreichend spannende Erfahrungen und erfüllte Momente gesammelt? Sind Sie in Ihrem Traumjob gelandet (obwohl ehrlicherweise niemand von Lohnarbeit träumen würde) oder sind sie etwa arbeitslos geworden? Unser Alltag ist voll von widersprüchlichen ideellen Imperativen zu richtiger Lebensführung, Selbstverwirklichung und Anstand sowie natürlich zu Leistung und Arbeit. Wir sollen ein gelingendes Leben führen, voll von Intensität, doch mit Maß und Mitte, nie langweilig oder spießig, aber immer stabil und funktionstüchtig.

Entsprechend hat diese Gesellschaft jede Menge kulturelle Waren zu bieten, die einen solchen Widerspruch aus Konformismus und Rebellion, Puritanismus und Exzess, Prüderie und Sinnlichkeit, Selbstbeherrschung und Sünde verhandeln. Man muss dafür nicht einmal auf die verwaltete Abenteuerlust von Event-Gutscheinen und Extremerfahrungstourismus schauen oder auf die geplanten Exzesse in der Clubkultur bis hin zum kleinbürgerlichen Flirt mit der verbotenen Lust und den »Fifty Shades of Grey«. Ein kleines bisschen gesellschaftlichen Widerspruch hat tatsächlich jeder durchschnittliche Haushalt in der Schublade, meist in klar gerasterter und gut portionierbarer Idealform: Schokolade.

Das Konzept Sündenfall

Schokolade ist nicht einfach nur Nascherei, sie ist vielmehr ein nahezu universelles Genussmittel der Ambivalenz von Lust und Schuld und trägt entsprechend den Nimbus der Sünde. »Die zarteste Versuchung«, wie es heißt, ist oft »sündhaft lecker« und Inbegriff sinnlichen Genusses. Die Werbung für ein berühmtes schokoladeumhülltes Vanilleeis am Stiel fährt dazu von Flammen, Leoparden und schweißtreibenden Tänzen alle Projektionen animalischer Sinnlichkeit für den gesellschaftlich durchschnittlichen Businessmenschen auf. Pünktlich zu jedem Sommer wirbt der Hersteller einer mandelgefüllten Kokos-und-Cremekugel mit dem »Genuss ganz ohne Schokolade«, als sei dies eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Der Sünde der Schokolade steht hier das Strandparadies und die weiße Weste, beziehungsweise Sommerkleid, gegenüber.

Worin aber besteht denn eigentlich die Sündhaftigkeit der Schokolade? Im Konkreten versündigt man sich mit der Mixtur aus Fett, Zucker und Kakao am ehesten an der empfohlenen ausgewogenen Ernährung, an seiner Diät und Fitness sowie damit an dem Bekenntnis zum normschönen Körper- und Leistungsideal. Im übertragenen Sinne aber ist Genuss an sich bereits eine Sünde, und zwar gegen die protestantische Ethik der Enthaltsamkeit, Willensstärke und Arbeitsmoral – und damit gegen nichts weniger als die ideellen Grundlagen des Kapitalismus, welche der Soziologie Max Weber einmal als dessen »Geist« bestimmte.

Genuss und Sinnlichkeit mit einem moralischen Tabu zu belegen, hat auch eine religiöse Tradition. Aber deswegen ist die Sündenaufladung des Genusses nicht einfach ein Relikt aus alten Zeiten religiöser Ordnung. Eher ist es andersherum: Die Obsession mit Sünde und Buße etwa im Christentum ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Schuldzusammenhangs, der mit der Aufklärung seine kollektive Projektion in der Religion verloren hat und auf die Schultern der Einzelnen und ihrer Handlungen abwanderte. Wo früher der Sohn Gottes für die gemeinsamen Sünden büßen musste, herrscht heutzutage bekanntlich Eigenverantwortung – und eigene Schuld.

Mit solcher Schuld ist in unserer Zeit nicht nur die neoliberale Privatisierung gesellschaftlicher Widersprüche gemeint, vielmehr gehört es zu einer widersprüchlich eingerichteten Gesellschaft dazu, dass sie Schuld produziert. Das Zeichen der bürgerlichen Moderne ist ja gerade ihre Ambivalenz: Vermeintlich befreit von autoritären Dogmen machen die Menschen ihre Geschichte selbst, wenn auch unter vorgefundenen Bedingungen. Ihre ideelle Freiheit stößt allerdings ständig auf reale gesellschaftliche Zwänge. Der grundlegende Schuldzusammenhang in der modernen bürgerlichen Gesellschaft besteht kurz gesagt darin, dass die Menschen das Potenzial zu Freiheit und Gleichheit hätten, es ihnen aber systematisch verstellt ist. Das ist scheinbar so schwer erträglich, dass es Menschen regelmäßig in die Sehnsucht nach Führer und Vaterland sowie den Hass auf die Freiheit treibt – weil diese schuldig macht. Ein klassisch moderner Ambivalenzkonflikt, der sich in die unschuldigsten Details verfolgen lässt.

Ein kleiner Biss genügt

Entsprechend ist Schokolade auch nicht bloß ein Laster, sondern ihr sündhafter Genuss hat auch eine heilende, versöhnende Wirkung: Ein bisschen eingehegter Widerspruch ist damit konsumierbar, ganz ohne Nebenwirkungen wie etwa der Forderung nach gesellschaftlicher Befreiung. Im Jahr 2000 führte der Film »Chocolat« diese wundersame Kraft der Schokolade einem Massenpublikum vor Augen. Er erzählt die rührselige Geschichte der unangepassten Schokoladenherstellerin Vianne (Juliette Binoche), die die französische Provinz mit ihrem herzlichen Wesen und ihrer Kakaospiritualität aufmischt. Durch eine Affäre mit dem »Vagabunden« Roux (Johnny Depp) wird sie schließlich zur Projektionsfläche rassistischer Ausgrenzung. In der angezettelten Pogromstimmung dringt der Bürgermeister selbst in Viannes Laden ein und beginnt ihn zu verwüsten, wobei er versehentlich einen Splitter ihrer Schokolade kostet und prompt von seinen unterdrückten Leidenschaften und Wünschen überwältigt wird.

Der Genuss ist ein heilsamer Trip, der ihn zum Apologeten der Lebenslust werden lässt. Wie der deutsche Untertitel des Films suggeriert, hat »ein kleiner Biss genügt«, die Verhärtung der prüden Nachkriegsgesellschaft zu erschüttern. Zugleich liegt darin aber auch die Mahnung, dass ein kleiner Bissen eben genügen muss. In diesem Fall also: Etwas Toleranz und Menschlichkeit, schon sind alle Konflikte vergessen. Es ist eben kein Zufall, dass der portionierbaren Sünde Schokolade diese kathartische Funktion zukommt. Sie ist das kleine bisschen Verführung und Sünde, das sich ganz konform in die verwaltete Welt integrieren lässt.

Eine Zauberkraft hat die Schokolade auch in der Tim-Burton-Verfilmung des Kinderbuchklassikers von Roald Dahl »Charlie und die Schokoladenfabrik«. Hier lässt der mysteriöse Großindustrielle Willy Wonka (wieder: Johnny Depp) fünf durch ein goldenes Ticket auserwählte Kinder seine Schokoladenfabrik besichtigen. Ein Geheimnis umgibt die Fabrik, denn nie sieht man Arbeiter*innen hinein- oder hinausgehen. Wonka, der unter den Auserwählten einen Erben seiner Dynastie sucht, lässt die Kinder während der Führung eines nach dem anderen verunglücken, da sie den Versuchungen entsprechend ihrer persönlichen Schwächen erlagen. Nur der bettelarme und moralisch integre Charlie (Freddie Highmore) bleibt schließlich übrig.

Die Prüfung Willy Wonkas spricht unfreiwillig jene Wahrheit im »Geist des Kapitalismus« aus: Der Versuchung der Schokolade zu widerstehen ist die Bedingung des erfolgreichen Unternehmertums, das wiederum der Produktion jener Versuchung zugrunde liegt. Die ökonomische Dimension wird in der Vorgeschichte zur Schokoladenfabrik, die Ende 2023 als »Wonka« in die Kinos kam, noch deutlicher. Der Film erzählt den Aufstieg des Industriellen Wonka (Timothée Chalamet) quasi vom Tellerwäscher zum Millionär, »der sich mit innovativem Handwerk, Menschlichkeit und Fantasie gegen ein marktbeherrschendes Monopol durchsetzt«, wie es in einer Rezension Philipp Bühlers heißt. Die Heldenreise des auserwählten Unternehmers kann mit allem fantastischen Kitsch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eigentliche »Geheimnis« der erfolgreichen Schokoladenproduktion in der Ausbeutung versklavter Arbeit besteht: Wonka lässt schließlich seine Fabrik von einem kleinwüchsigen Tropenvolk bewirtschaften, den sogenannten Umpa-Lumpas, die in seiner Fabrik wohnen.

Wirklich schlechtes Gewissen

Dass die Produktion (nicht nur) der Schokolade bis heute auf quasi-kolonialer Ausbeutung beruht, dürfte die ganz reale andere Dimension der »Sünde« sein, die uns kulturell im Genuss vermittelt wird. Und diese Vermittlung bindet uns an jenen gesellschaftlichen Schuldzusammenhang: Der symbolische Tabubruch eines kleinen verbotenen Genusses und seine heilsame Kraft sind wenig mehr als Mechanismen der Reproduktion des Bestehenden.

Damit ist natürlich nicht gesagt, dass sich irgendjemand durch den Verzehr von Schokolade schuldig macht an der Schlechtheit der Welt. Die Schokolade ist nur eine Ware, deren Bedeutung für uns kulturindustriell nachproduziert werden muss, und zwar genau so, dass wir sie kaufen, zugleich aber ihre Entstehungsbedingungen unverändert bleiben: Ausbeutung, Produktion und Distribution. Wenn Sie also demnächst zur Schokolade greifen, weil es im Alltag so stressig ist, weil Sie eine Auszeit von der Selbstbeherrschung brauchen und sich gegen den Frust belohnen wollen, wenn der Schokohase warme Kindheitserinnerungen weckt – dann denken Sie bitte daran, dass Sie sich eigentlich eine befreite Gesellschaft wünschen.

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