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Berliner Mitte: Hochpreisige Versiegelungsfantasien
Für Berliner Altstadt-Lobbyisten sind Grünflächen offenbar Brachen, die nur auf Luxus-Bebauung warten
Die Diagnose in den »Eckpunkten zur Stadtentwicklung der Berliner Mitte« liest sich desaströs. Berlin sei »in seiner Mitte abwesend«. Eine »überzeugende Stadtpolitik« sei jedoch nicht möglich »ohne die Bindung an einen von den Bewohnern libidinös besetzten Mittelpunkt«. Eine Hauptaufgabe der Berliner Landespolitik bestehe darin, »Neu-Berliner an die Stadt zu binden, statt die Alt-Eingesessenen im Lokalismus ihrer Kiez-Zufriedenheit weiterhin zu bestärken«.
Es geht noch weiter. Berlin leiste es sich, Flächen ungenutzt zu lassen, »die in allen anderen Metropolen der Welt Ort der maximalen Wertschöpfung sind«. Verkehrs- oder Freiflächen – gemeint sind einerseits überdimensionierte Straßen, andererseits aber auch Grünflächen wie zwischen Fernsehturm und Spree – »kosten Instandhaltung, tragen aber nichts zur Stadtwirtschaft bei, sie sind bloße Last«.
Doch die Eckpunkte der »Planungsgruppe Stadtkern im Bürgerforum Berlin« bieten auch ein Patentrezept: Die nutzlosen Brachen müssen schnellstmöglich bebaut werden. Und zwar mit »gezieltem individualisierten Wohnungsbau auf historischem Stadtgrundriss« – also kein Geschosswohnungsbau für breite Bevölkerungsschichten, sondern Townhouses für die Reichen. Denn auch Mietobergrenzen werden abgelehnt; sie engten »das Feld von vornherein auf die öffentlichen Gesellschaften ein«.
Wen das fatal an den politischen Kampf erinnert, der seit Jahren um den Molkenmarkt tobt, der liegt nicht falsch. Denn die Planungsgruppe Stadtkern ist nur eines der verschiedenen Vehikel, mit denen seit Jahrzehnten die Altstadt-Fans für ihre großbürgerliche Vision kämpfen. Zu den Protagonisten zählen neben dem Historiker Benedikt Goebel der Architekt Tobias Nöfer und die inzwischen zur Senatsbaudirektorin aufgestiegene Petra Kahlfeldt.
»Es ist ein Papier, das mit viel Nebelkerzen wirft«, attestiert Matthias Grünzig von der Initiative Offene Mitte Berlin im Gespräch mit »nd«. Zwar werde im Papier unter anderem auf stadtökologische und soziale Ziele hingewiesen, die Empfehlungen widersprächen diesen Zielen. »Einziges Ziel der Verkehrsberuhigung scheint die Generierung von Bauflächen zu sein«, sagt Grünzig. Denn von mehr Grün ist bei der Planungsgruppe nicht die Rede, sie plant sogar zusätzliche Versiegelung. »Grünflächen werden als bloße Last definiert«, so Grünzig.
»In meinen Augen dient dieses Papier nur dazu, im Kampf um den Molkenmarkt das Altstadt-Lager zu stützen«, sagt Matthias Grünzig. Denn bis auf die starke Betonung ökonomischer Kriterien gebe es »nichts Neues« darin. Möglicherweise witterten die Altstadt-Fans durch die sich verschärfende Haushaltslage wachsende Chancen für die Privatisierung von Flächen.
Immerhin die Umsetzung der Neugestaltung des Rathausforums zwischen Fernsehturm und Spree mit Grün und zusätzlicher Entsiegelung scheint nicht in Gefahr. Anders sieht es am Molkenmarkt aus.
»Dieses und nächstes Jahr werden die Weichen für den Molkenmarkt gestellt«, sagt Grünzig. Einerseits soll bis Jahresende das Gestaltungshandbuch vorgelegt werden. In der Ausschreibung dafür war zwar viel von Kleinteiligkeit und Dachformen die Rede, allerdings war kein Wort zum Ziel »bezahlbarer Wohnraum« zu finden. Die Architekturwettbewerbe für die Gestaltung konkreter Parzellen sollen 2025 beginnen. »Wenn die gestartet sind, kann man es schwer zurückdrehen«, warnt Grünzig.
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