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Die Guten und die Bösen

»Im Moralgefängnis« von Michael Andrick: Es steht mehr auf dem Spiel als unsere Streitkultur

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

»Reizthemen« umgehen, statt sich zu zerstreiten: Vielleicht fing es mit Corona an. Jeder, dem er von seinem Buch erzählte, habe eigene Erfahrungen beizutragen gehabt, so Michael Andrick. »Ob Mann oder Frau, alt oder jung, reich oder arm, Doppeldoktor oder ungelernter Arbeiter, auf dem Land oder in der Stadt – alle sagten sie dann im Grunde dasselbe: ›Ich muss dir mal was erzählen dazu … wir sind mit diesem Ehepaar schon seit vielen Jahren befreundet, und dann ….‹ Dann kamen Misstrauen, Entfremdung, Feindseligkeiten, manchmal auch die endgültige, mit dramatischen Szenen besiegelte Entzweiung – ›wegen Corona‹, ›wegen des Ukrainekriegs‹ oder ›weil die das rassistisch fanden, was ich gesagt habe‹.«

Wie kann es sein, dass eine Debatte über Sachfragen so schnell ins Persönliche kippt? Wie soll man das nennen? »Moralitis« klingt nach Krankheit, und der Bezug zu Friedrich Nietzsches satirisch gemeintem Begriff »Moralin« mag manchem im Dunkel bleiben. »Moralinsauer« – so lässt sich etwas aufdringlich Korrektes verspotten. »Das Ergebnis ist die Ausbildung eines moralischen Sendungsbewusstseins, das ganz ohne den Bezug auf die vielfältigen Tatsachen der Welt auskommt und deshalb den Namen ›Fundamentalismus‹ verdient.«

Vom Westend Verlag gibt es zahlreiche Publikationen, die sich unter dem Begriff »Ideologiekritik« zusammenfassen lassen. Allen voran die Texte von Rainer Mausfeld (hier seien nur »Warum schweigen die Lämmer?« und »Angst und Macht« genannt), »Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung wird« von Almut Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder, »Wir sind immer die Guten« von Mathias Bröckers und Paul Schreyer, »Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst« von Albrecht Müller … Zum Motto für sein Buch hat Michael Andrick ein Zitat von Gustave Le Bon (1841–1931) gewählt, der als Begründer der Massenpsychologie gilt: »Die echteste Tyrannei beherrscht die Seelen unbewusst, denn sie allein ist nicht zu bekämpfen.«

Um dieser »Tyrannei« entgegenzuwirken, muss sie bewusst gemacht werden. Der Autor kann sich freuen, dass er mit seinem Anliegen bei »Spiegel« und »Börsenblatt« auf die Bestsellerlisten kam. Ein massenhaftes Problem wollte er ansprechen und – ein Kunststück – Menschen mit unterschiedlichen Meinungen erreichen. Denn: »Eine Gesellschaft mit lebendiger Demokratie und pluralistischer Diskussionskultur kann … viele stark polarisierende Debatten führen, ohne deshalb gespalten zu sein«. Spaltung sei als Tätigkeit zu verstehen. Dass er dabei nicht mitmachen will, signalisiert er allein schon mit dem Wörtchen »wir«. Wobei es freilich um politökonomische Machtverhältnisse, um Staat und Ideologie geht, aber auch um den konkreten Umgang der Politik mit den Bürgern. Die Verhältnisse durchschauen zu können, mag Gelassenheit schenken. Aber gelassen kann und will der Autor dieses Buches gerade nicht sein.

Denn es sind gefährliche Zustände, in die wir da hineinzuschlittern drohen. Tatsächlich wir. Zwar ist es ein Unterschied, ob eine Meinung in der »Tagesschau« geäußert wird oder am Abendbrottisch, doch beides steht im Zusammenhang und schließt ein großes Spektrum möglicher Reaktionen ein. Was die konkreten Streitthemen betrifft, steigt Michael Andrick absichtsvoll nicht in Schützengräben. Die Möglichkeit unterschiedlicher Meinungen wird nicht bestritten, wobei die des Autors durchaus durchschimmert. Frontenbildung in der Gesellschaft zu konstatieren, würde ihm nicht genügen. Vielmehr gilt es, die konkreten Mechanismen von Spaltung zu durchschauen, allein schon, um sich selbst dagegen zu immunisieren.

»Impfgegner«, »Verschwörungstheoretiker«, »Querdenker«, »Schwurbler« – das hört sich an, als seien Teile der Bevölkerung nicht mehr richtig im Kopf.  Wie kann es geschehen, dass moralische Verurteilungen an die Stelle notwendiger »Verständigung über das Gemeinwohl« treten?  Meinungspluralismus? Den gibt es. Aber zugleich werden Tendenzen der politischen Lenkung des öffentlichen Diskurses augenscheinlich. Moralisierung als Akt »diskursiver Gewaltausübung«, als arrogantes Hinweggehen über den Anderen hat natürlich Gegenreaktionen zur Folge. Die Unwilligkeit, andere Haltungen auszuhalten, führt zur »Blasenbildung« Gleichgesinnter, zur Zementierung eigener Ansichten und Vorurteile. Lernfähigkeit verkümmert. »Wenn wir über bestimmte Themen nicht mehr ohne Explosionsgefahr sprechen können, schließen wir uns in selbstgebaute Mauern ein.« Tabus und Tabuvermutungen nehmen zu.

»Bekenntniszwang und pädagogische Sendung«: An Brisanz kaum zu überbieten sind die Kapitel, in denen es um die ideologischen Mechanismen »moralischer« Machtausübung zum Zwecke einer Art »Volkserziehung« geht. »Abkanzeln«, »Umstrittenmachen«, andere »kontaktverschulden« – »Du wirst als Rechter betrachtet, wenn neben dir ein Rechter gesehen wird.« Das sei mitunter wie »Schulhof-Mobbing der einfachsten Sorte«, kann aber zu ernsten Konsequenzen führen, gerade für Freiberufliche auf künstlerischem Gebiet.

Im Lande grummelt es, und eine Regierung im Krisenmodus vertraut der Demokratie nicht mehr. Die Gefahr besteht, so Michael Andrick, dass im Windschatten von Moralisierung und Demagogie Elemente totalitärer Herrschaft schrittweise wieder Einzug halten. Warnung vor einem Ruck nach rechts: »Am Ende könnte auch heute ein angsthypnotisiertes Volk seiner eigenen Knechtung unter einer versimpelnden Ideologie und einem allmächtigen, Rettung und Sicherheit versprechenden Staat energisch zustimmen.«

Was kann Philosophie vor diesem Hintergrund leisten? Zumindest das: Leuten helfen, ihre Gedanken zu ordnen, ihnen Begriffe geben, um ihre Erfahrungen zu verstehen, mit denen sie nicht alleine sind.

Michael Andrick: Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden. Westend, 173 S., br., 18 €.
nd-Literatursalon mit Michael Andrick, 10. April, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin.

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