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Arbeitsrecht: »Das Problem ist das Machtungleichgewicht«
Arbeitsrechtler Ernesto Klengel über die Wende, aktuelle Versuche, das Streikrecht einzuschränken, und gewerkschaftliche Gegenstrategien
Sie sind im Osten geboren und aufgewachsen. Wie hat das Ihren Blick auf das Arbeitsrecht geprägt?
Mein Großvater hat im Kalibergbau in Thüringen gearbeitet. Da habe ich mitbekommen, wie Investoren aus Westdeutschland kamen, die dann das Werk zugemacht haben. Und ich habe erlebt, wie in der Nachwendezeit, in der ich in Sachsen aufgewachsen bin, Unternehmen abgewickelt wurden. Da hat auch das Arbeitsrecht nicht viel machen können, vor allem weil wichtige Institutionen des Arbeitsrechts nicht relevant waren. Tarifverträge und vor allem Betriebsräte waren kaum Themen. Diese Eindrücke haben später mein Verständnis vom Arbeitsrecht geprägt. Mir ist wichtig, dass die betriebliche Mitbestimmung ausgebaut und den Erfordernissen der Arbeitswelt von morgen entsprechend angepasst wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass es viele Bereiche gibt, in denen wichtige Arbeitnehmerrechte keine Rolle spielen.
Wie meinen Sie das?
Schauen wir uns zum Beispiel die Lkw-Fahrer an, die in Gräfenhausen gestreikt haben, oder die Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten und Zustellern: Vielfach greift das Arbeitsrecht einfach nicht als der maßgebliche Durchsetzungsmechanismus für Arbeitsstandards. Immer weniger Konflikte landen vor den Arbeitsgerichten, die staatliche Aufsicht ist strukturell unterbesetzt. Es sind die Betriebsräte, die vielerorts für die Einhaltung von Arbeitsrechten in ihren Betrieben einstehen. Umso schmerzhafter ist es, dass nach Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung mittlerweile deutlich unter 40 Prozent der Beschäftigten in einem Betrieb mit Betriebsrat arbeiten. Ein wichtiger Faktor für diesen Trend ist der Strukturwandel, der damit einhergeht, dass die Zahl gut bezahlter und mitbestimmter Arbeitsverhältnisse abnimmt. Gleichzeitig wachsen Bereiche, in denen Mitbestimmungsstrukturen erst aufgebaut werden müssen. Und wenn die Digitalisierung in den Betrieben voranschreitet, wird es immer schwieriger, sich am Arbeitsplatz auszutauschen und zu organisieren.
Ernesto Klengel wurde 1986 im sächsischen Zwenkau geboren. Im März wurde er zum wissenschaftlichen Direktor des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeits- und Sozialrecht ernannt.
Auch mit Blick auf die Arbeitsniederlegungen bei der Bahn wurde gefordert, das Streikrecht in der kritischen Infrastruktur einzuschränken. Wie bewerten Sie das?
Man muss sagen: Wenn die Lokführerinnen und Lokführer weiterhin verbeamtet wären, würden wir uns heute nicht über dieses Thema unterhalten. Die Situation ist also eine Folge politischer Entscheidungen. Und was den Begriff der kritischen Infrastruktur angeht, so ist dieser ebenso wie die sogenannte Daseinsvorsorge kein Rechtsbegriff. In der politischen Debatte scheint mir häufig nicht klar zu sein, was damit gemeint ist. Und wenn wir uns anschauen, was noch alles als systemrelevant gilt, Krankenhäuser, Kindertagesstätten oder Pflegeeinrichtungen, sind das Bereiche, wo es größte Schwierigkeiten gibt, Streiks durchzuführen. Das hat damit zu tun, dass die Beschäftigten hier ein starkes Verantwortungsgefühl haben, es aber auch schwieriger ist, gegenüber dem Arbeitgeber ökonomischen Druck zu erzeugen. Gerade hier das Streikrecht einschränken zu wollen, ist absurd und rechtlich kaum umsetzbar – immerhin ist es ein Grundrecht, das für alle gleichermaßen gilt.
Die Debatte um das Streikrecht ist eher defensiv. Wo sehen Sie gewerkschaftliche Hebel, um in die Offensive zu kommen?
Interessenvertretungen werden für viele Beschäftigte wieder wichtiger. Das hat auch damit zu tun, dass sich Arbeitgeber aus der Sozialpartnerschaft verabschiedet haben, der Druck auf die Arbeitsbedingungen steigt. Für gewerkschaftliche Erfolge spielt auch die vergleichsweise gute Situation am Arbeitsmarkt eine positive Rolle. Außerdem verändert sich das gewerkschaftliche Selbstverständnis mit den neuen Erwartungshaltungen der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben. Doch da die Schwächung der Mitbestimmung strukturelle Gründe hat, kann die Trendwende nicht allein von den Gewerkschaften selbst ausgehen. Nötig sind tragfähige arbeitsrechtliche Grundlagen. Juristinnen und Juristen aus den Gewerkschaften haben hierfür einen Vorschlag für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz vorgelegt. Auch für die Stärkung der Tarifbindung liegen konkrete Vorschläge auf dem Tisch.
Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang das Bündnis »Wir fahren zusammen« zwischen Verdi und der Klimagruppe Fridays for Future?
Der nötige ökologische Umbau der Wirtschaft zeigt deutlich, dass die Frage, wie wir arbeiten, eine politische ist. Denn die Entscheidungen, die auf unternehmerischer und auf politischer Ebene getroffen werden, haben unmittelbare Auswirkungen darauf, wie wir in Zukunft arbeiten. Und aus der anderen Perspektive ist eine nachhaltige Wirtschaft nur sozial denkbar, da das Konkurrenzprinzip ökologischer Nachhaltigkeit entgegensteht. Insofern zeigt »Wir fahren zusammen«, dass es zu eng gedacht ist, wenn man das Mandat von Beschäftigten auf soziale Themen und das Aktionsfeld von sozialen Bewegungen auf den öffentlichen Diskurs beschränken will. Ein anderes Beispiel dafür ist doch der Pflegebereich, in dem die Arbeitsbedingungen stark von Regelungen der Krankenhausfinanzierung und den Vereinbarungen mit den Kranken- oder Pflegekassen abhängen. Wenn man hier Arbeitsbedingungen verbessern möchte, was im Interesse aller läge, muss man auch politisch argumentieren.
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Ob das gelingt, ist auch eine Frage von Kräfteverhältnissen. Wie nehmen Sie Einfluss auf das Rechtsverständnis?
Unser Ansatz als rechtswissenschaftliches Institut ist klar: indem wir Fragen des Arbeits- und Sozialrechts aus dem Blickwinkel der Beschäftigten diskutieren. Im arbeitsrechtlichen Diskurs haben unternehmensnahe und finanzstarke Großkanzleien sowie konservative Denktraditionen einen großen Einfluss. Das führt dazu, dass Debatten häufig aus einer Perspektive von oben geführt werden. Das hat schon für die Themenwahl Auswirkungen: Die arbeitsrechtlichen Defizite in prekären Bereichen der Arbeitswelt oder auch das Union Busting sind unterbelichtet. Außerdem geht es um eine andere Perspektive auf wichtige Figuren des Arbeitsrechts. Nehmen wir die Tarifautonomie: In der Vergangenheit hat man die Fähigkeit, Tarifverträge zu schließen, im Prinzip aus staatlicher Rechtssetzung abgeleitet. Das war die konservative Position in den 50er und 60er Jahren. Dann hat sich der Zeitgeist geändert. Es wurde die Meinung vorherrschend, dass sich die Tarifautonomie durch den autonomen Beitritt der Mitglieder in den Verband legitimiert. Das ist eine liberale Vorstellung. Wir meinen aber, dass diese Konzepte am eigentlichen Problem der Arbeitsverhältnisse im Kapitalismus vorbeigehen, dem strukturellen Machtungleichgewicht zwischen lohnabhängig Beschäftigten und Unternehmen.
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