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Expertenrat für Klimafragen: Mildes Wetter rettet Klimabilanz

Ohne schwache Industrie und gemäßigte Witterung hätten Emissionen 2023 noch höher gelegen

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Sektoren Energie, Industrie und Gebäude haben hohe CO₂-Minderungen erreicht. Im Verkehrssektor wurden die Klimaziele verfehlt.
Die Sektoren Energie, Industrie und Gebäude haben hohe CO₂-Minderungen erreicht. Im Verkehrssektor wurden die Klimaziele verfehlt.

Volker Wissings polterndes Androhen eines Auto-Fahrverbots an Wochenenden hat wohl Wirkung gezeigt. Noch am Montagvormittag versuchte der Expertenrat für Klimafragen mit seinem jährlichen Prüfbericht den Druck auf Wissing, ein Klimaschutz-Sofortprogramm aufzulegen, zu erhöhen. So sollte das CO2-Budget des Verkehrssektors eingehalten werden. Montagnachmittag machte die Ampel-Regierung dem durch das neue Klimaschutzgesetz einen Strich durch die Rechnung. Nun werden die jährlichen Sektorziele abgeschafft. In Zukunft soll zählen, ob Klimaziele insgesamt erreicht werden.

Das, obwohl der Expertenrat in seinem Bericht die kürzliche Angabe des Umweltbundesamtes (UBA) bestätigte, wonach der Verkehr 2023 sein CO2-Budget um knapp 13 Millionen Tonnen überzog. Die erneute Verfehlung des Sektorziels sei »eindeutig«, stellte der Vorsitzende des Expertenrats, Hans-Martin Henning, fest. Alles in allem folgt der Rat dabei den UBA-Berechnungen und verifiziert den starken Rückgang der CO2-Emissionen von 2022 zu 2023 um rund zehn Prozent von 750 Millionen auf 674 Millionen Tonnen. Besonders die Sektoren Energie, Industrie und Gebäude hätten hohe CO2-Minderungen erreicht.

Dennoch emittierte der Gebäudesektor 2023 laut UBA eine Million Tonnen CO2 mehr als im Klimaschutzgesetz erlaubt. Nach Wortlaut des alten Gesetzes müsse deswegen bis Mitte Juli für die Gebäude wie für den Verkehr ein Sofortprogramm vorgelegt werden, betonte Henning. Er bezog sich mit Absicht auf den »Wortlaut«. Denn für den Expertenrat war das alte Klimagesetz bindend, das für jedes Ministerium feste Sektorvorgaben machte. Gerade diese lästige Pflicht wollte sich Wissing mit den angedrohten Fahrverboten vom Hals schaffen.

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Bereits jetzt sei die Klimalücke im Verkehr so groß, dass mit einer Einzelmaßnahme immer nur »ein bisschen was« erreicht werden könne, sagte Expertenrat-Vizechefin Brigitte Knopf am Montag. In diesem Bereich wäre ihrer Auffassung nach ein »erweitertes Maßnahmenpaket« nötig. Knopf sowie auch Henning machten aber zugleich klar, dass der Ausweg der FDP – Aufhebung der Pflicht für jedes Ministerium, das Sektorziel einzuhalten und erlaubte »Verrechnung« mit anderen Sektoren – seine Tücken hat.

Denn ohne die CO2-Rückgänge bei energieintensiven Industrien wie Stahl, Grundstoffchemie und Papier und ohne die erneut milde Witterung hätten die Emissionen 2023 deutlich höher gelegen, stellte Henning klar. Der Expertenrat rechnete diese Einflussfaktoren in seinen Prüfbericht ein. Er kam auf die grobe Schätzung, dass unter normalen Umständen fast 75 Millionen Tonnen CO2 mehr emittiert worden wären. Der 2023 erzielte CO2-Rückgang beruhe also zu einem »beträchtlichen Teil« auf Entwicklungen, deren Dauerhaftigkeit nicht sichergestellt sei, so die Bewertung von Henning.

Auch der Thinktank Agora Energiewende hatte sich in einer letzte Woche veröffentlichten Evaluation mit dem Anteil von »konkretem« Klimaschutz befasst und diesen bei der zu erwartenden CO2-Minderung bis 2030 auf lediglich ein Fünftel veranschlagt.

Nicht zufällig bietet nun der Prüfbericht des Expertenrats auch im Detail einige Anlässe, sich um längerfristig wirksame Trends im Klimaschutz zu sorgen. So wurden – auch wenn der Anteil fossiler Heizsysteme insgesamt zurückging – 2023 mit 903 000 Einheiten so viele fossile Wärmeerzeuger wie noch nie verkauft. Insbesondere stieg nach den Angaben der Anteil von Gasheizungen im Wohnungsbestand auf 49,5 Prozent. Die zusätzlichen Gasheizungen führten zu Mehremissionen von etwa 200 000 Tonnen CO2-Äquivalent. Der Expertenrat sieht hier das Risiko eines fossilen Lock-in-Effekts, weil die neuen Heizanlagen vielfach 20 Jahre und länger laufen würden.

Mit besonderer Sorge blickt der Expertenrat auf den Klima- und Transformationsfonds. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen November wurden die Fondsmittel um insgesamt knapp 42 Milliarden Euro gekürzt, darunter um 4,6 Milliarden in diesem Jahr. Zudem werde dieses Jahr auch die finanzielle Rücklage des Klimafonds praktisch »vollständig abgeschmolzen« sein, erklärte Brigitte Knopf: »Der Spielraum für den Klimaschutz in den kommenden Jahren hat sich damit stark verkleinert«.

Auch im Verkehr gibt es nach Auffassung des Expertenrats für Klimafragen eine Reihe von Maßnahmen, die nicht halten, was die Politik versprochen hat. So reduzierte sich 2023 – werden alle Pkw-Neuzulassungen und -Abmeldungen berücksichtigt – zwar der Bestand an reinen Verbrenner-Autos um knapp 633 000 Fahrzeuge. Zugleich wuchs aber die Zahl der Hybrid-Fahrzeuge um 573 000 Stück, sodass insgesamt der fossile Bestand letztes Jahr nur um 0,1 Prozent zurückging.

Zudem habe 2023 wegen der schwachen Industrienachfrage der Lkw-Güterverkehr abgenommen, während der Pkw-Verkehr zugelegt habe, so der Expertenrat weiter. Auch das Homeoffice bringe nicht die CO2-Einspareffekte, die man sich davon erhoffte. Des Weiteren stehe die CO2-Minderungswirkung des Deutschlandtickets noch nicht fest. »Im Verkehrssektor bleibt eine erhebliche Lücke bis 2030«, bilanzierte Knopf. Wissing hat aus Klimasicht offenbar schon das Handtuch geworfen. Es sieht nicht so aus, als würde er das auch bald politisch tun.

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