Puppe und Punchingball sein

Das Land, wo die Gewalt blüht: »Zitronen« von Valerie Fritsch

  • Ingo Ebener
  • Lesedauer: 5 Min.
Was war zuerst da: die Zitrone oder die schlechte Stimmung?
Was war zuerst da: die Zitrone oder die schlechte Stimmung?

Bevor Zitronen in »Zitronen« von Valerie Fritsch auftauchen, wird der Leser zum Zeugen einer Schreckensgeschichte gemacht, in der es nur gewaltsam geschädigte, aber keine unversehrten Figuren gibt. Und weil die Vorgeschichte auch in die Nachgeschichte hineinwirkt, fragt man sich, ob die Zitronen nicht bloß eine Fantasie oder eine Hoffnung auf den Süden gewesen sind, wie in Goethes berühmtem »Lied der Mignon« aus »Wilhelm Meisters Lehrjahren«: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn«. Auch dieser Roman kennt die Hoffnung, spielt mit ihr als einer Form der Veränderung, der Besserung und der Heilung, und lässt sie dann seifenblasenartig zerplatzen. Das erinnert daran, wie Erich Kästner Goethes Zitronen in eine harte Wirklichkeit der Gewalt, der Unreife und des Gehorsams überführt hat: »Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?«

Gewalt ist das zentrale Thema des Buches. Beginnend bei der Kindheit, deren Paradieshaftigkeit wie auch in den früheren Büchern von Valerie Fritsch als eine unheimliche und gespenstische ausgebreitet wird, lernen wir den jungen August Drach als Spielball oder vielmehr Punchingball seiner Eltern kennen. Dort im alten und morschen Haus am Rande des Dorfes, das vollgestopft ist mit Krempel und Trödel, mit dem der Vater Geld zu verdienen gedenkt, mit Staub und abgelegten Erinnerungen leben die Drachs das exemplarische Leben einer Familienidylle vor, die so lange bröckelt, bis sie auseinanderbricht.

Mutter Lilly liest August nicht bloß Märchen voller gewaltiger und gewaltsamer Verwandlungen vor, sie scheint auf pathologische Weise selbst in einem zu leben, sich in die Prinzessinnen-Hoffnungen ihrer Kindheit zu flüchten, um über die Realität hinwegsehen zu können, in der der Vater den Sohn verprügelt, um seine eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten nicht ertragen zu müssen: »Wie ihn der Vater immer kleinmachte und daran groß wurde«. Dieser Mann kann nur seinen Hunden seine Liebe zeigen, er flüchtet sich in die Schläge und in Selbstmitleid. Seine Taten sind stets solche, die ihm entglitten sind, ebenso diejenigen der Mutter, die sich mit einem Übermaß an Zärtlichkeit an den Sohn klammert: »Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einen erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah.«

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In dieser perfiden Welt lernt August zu lügen, weil die Lüge dabei hilft, sich aus ihr zu flüchten. Doch retten kann er sich nicht, weil die Schwäche der Mutter auf einmal in eine besondere Form der Gewalt umschlägt, nachdem der Vater beide zurückgelassen hat, die klinisch-verharmlosend nach dem Lügenbaron als Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bezeichnet wird. Lilly, die einst in der Pflege gearbeitet hatte, verhindert ein mögliches Verlassenwerden durch den Sohn, indem sie ihn mit Parkinson- und Migräne-Medikamenten in eine wehrlose Puppe verwandelt: »Kaum war er krank, konnte sie die Finger nicht von ihm lassen, wärmte sich an seinem Fieber ihre kalten Hände, bemutterte ihn, übermutterte ihn, und August bemerkte es in seinem Delirium kaum, sah bloß die rotgeschürzten Lippen über sich schweben im Augenwinkel.«

Zweimal rettet ihn der Zufall aus dieser ungeheuerlichen Übergriffigkeit der Übermutter. Einmal beschert er ihm einen unbekümmerten Sommer im Süden, umgeben von blühenden Zitronen, weil die Mutter die Pillen unabsichtlich auf einer Rastplatztoilette zurücklässt, und August kann seine Finger in das Fleisch einer Zitrone krallen, um sich der eigenen Lebendigkeit zu versichern. Ein andermal wird er vom Blitz getroffen und Otto, der leidenschaftslose Arzt des Dorfes, der der neue Mann der Mutter geworden ist, die Vergiftungen der Mutter aber aus Liebe toleriert, schickt ihn nach der Genesung in einem umliegenden aber fernen Krankenhaus »in einem Ausbruch späten Widerstands« weg von der Mutter in die Stadt.

Manche vermag die Stadt zu retten. Sie gibt den Anschein, in ihr jemand sein zu können, jemand anderes, jemand, der sich verwirklicht, der zu sich selbst findet, ganz in Beruf und Liebesglück aufzugehen vermag, um dann als gemachter Mensch stolz an die Schauplätze des eigenen Aufwachsens zurückzukehren und festzustellen, dass man den Kinderschuhen entwachsen ist und sich das Erlebte überlebt hat. »Zitronen« erzählt diese Happyend-Geschichten und Erfolgsstorys an, lässt sie als unwahrscheinliche Möglichkeiten aufscheinen und bricht sie wieder auf, behutsam manchmal, aber in der Regel brutal, mit Akten der Gewalt, harten Schnitten und Schlägen, so als seien diese nur die Konsequenz oder die Wiederholung vergangener Ereignisse. So als sei alles Glück nur möglich als verzweifelte Umklammerung, als schädigender Liebesschmerz einer beschädigten Seele.

»Zitronen« ist ein Buch über Gewalt, jedoch noch mehr eines über die Ohnmacht, die Menschen durch Ereignisse wie Verlust und Veränderung erleben. Aushalten müssen, aber nicht aufhalten können, dass etwas geschieht, ist eines der gewaltigsten Motive, das die Abschnitte der Erzählung verbindet. Gewalt also, erzählt uns Valerie Fritsch bildgewaltig, klug, verstörend und subtil, ist eine Schwäche, die nur mit Macht und Stärke verwechselt wird. Eine Schwäche, die es zu verhindern gilt und die zu verhindern vielleicht erst wirkliche Stärke und zitronenhafte Unbeschwertheit ermöglichen kann.

Valerie Fritsch: Zitronen. Suhrkamp, 186 S., geb., 24 €.

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