Tunesien: Freundschaft auf Kosten der Migranten

Italiens Regierungschefin Meloni forciert die Abschiebepartnerschaft mit Tunesien

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 4 Min.
Tunesierinnen protestieren vor der italienischen Botschaft in Tunis am 17. April.
Tunesierinnen protestieren vor der italienischen Botschaft in Tunis am 17. April.

Mit einer hochkarätigen Delegation ist Italiens Premierministerin Giorgia Meloni am Mittwochvormittag in der tunesischen Hauptstadt gelandet. Es ist bereits der vierte Besuch der konservativen Politikerin, die im vergangenen Sommer mit dem Versprechen gewählt wurde, die Zahl der auf Lampedusa und Sizilien ankommenden Migrantenboote drastisch zu reduzieren. Die von ihr propagierte Kooperation mit dem für seinen autokratischen Kurs im Rest Europas heftig gescholtenen Präsidenten Kais Saied schien aus ihrer Sicht in den vergangenen Monaten gut zu funktionieren. Nur wenige Migranten und Flüchtlingen gelang es seit September 2023, von den Küstenstreifen nördlich der Hafenstadt Sfax abzulegen.

Im Hinterland der von Fischerdörfern und Olivenhainen geprägten Region ist allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine regelrechte humanitäre Krise entstanden: 70 000 Migranten aus Westafrika und Kriegsflüchtlinge aus dem Sudan leben dort im Freien, die meisten ohne jegliche medizinische Hilfe. Ihre notdürftig zusammengebauten Zelte werden von der Nationalgarde regelmäßig zerstört. Journalisten und Hilfsorganisationen wird der Zugang zu den mittlerweile unter Hunger leidenden Menschen immer wieder verweigert. Weil sich die aus 17 Ländern kommenden Migranten nach vielen gescheiterten Ablegeversuchen oft nur noch mit Spenden der lokalen Bevölkerung ernähren können, steigt auch deren Unmut.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Einheimische sauer auf die EU

»Warum stoppt unsere Küstenwache auf Geheiß Europas die Migranten?«, fragt Mohamed Alzuri, ein Kioskbesitzer aus Al Amra. Das Fischerdorf, in dem nach Schätzungen lokaler Aktivisten mehr als 10 000 Migranten auf Straßen und Feldern leben, ist ein Brennpunkt der Krise. »Die Leute sind von der Regierung hierhin getrieben worden, ohne dass man uns gefragt hat. Die Migranten wollen doch weiter nach Europa. Weil man sie nicht lässt, leiden wir nun unter Kriminalität und steigenden Lebensmittelpreisen.«

Alleine am vergangenen Wochenende hatten die aus Italien gelieferten Patrouillenboote der Nationalgarde über 50 Boote mit über 1500 Menschen an Bord nach dem Ablegen von einsamen Stränden bei Sfax gestoppt. Weil die in wenigen Stunden zusammengeschweißten Metallboote bei Wellengang oder Panik unter den bis zu 40 Passagieren in wenigen Minuten sinken, dürfte die Zahl der tatsächlich abgefahrenen Boote höher als offiziell bekannt sein.

Mehrere hundert Vermisste Migranten

Auf sozialen Medien suchen die untereinander gut vernetzten Migranten derzeit mehrere hundert vermisste Freunde oder Verwandte, deren Verbleib ist unklar. Denn eine unbekannte Zahl der auf dem Mittelmeer Geretteten wird von den tunesischen Sicherheitskräften an die libysche oder algerische Grenze deportiert, andere werden einfach freigelassen. Nach Abgabe ihrer Mobiltelefone, ihres Geldes und ohne Nahrung und Wasser sollen sich die in der Wüste Ausgesetzten auf den Rückweg in ihre Heimat machen, erklärt ein Beamter in Al Amra die neue Strategie.

Doch da die algerische Armee niemanden nach Süden durchlässt und es keine Schlepperstrukturen gibt, die in südliche Richtung funktionieren, schlagen sich die Deportierten in nächtlichen Märschen wieder nach Sfax durch. »Ich bin mit meiner Familie sechs Monate in Algerien und Tunesien unterwegs gewesen«, sagt ein Migrant aus Gambia »nd« in Sfax. Wie dramatisch die Lage mittlerweile auch außerhalb des von der Regierung für Migranten auserkorenen Küstenstreifens ist, sieht man in Sfax und Tunis.

Meloni will von Tunesien stärkere Grenzüberwachung

In Stadtteilen wie Ariana, aus denen im Februar Zehntausende Migranten von der Polizei und Nachbarschaftsgangs vertrieben wurden, leben mittlerweile offenbar wesentlich mehr Migranten als je zuvor. Vor Supermärkten im Hauptstadt-Distrikt Lafayette und Sfax bitten Migranten die Kunden um Geldspenden. »Zusammen mit der anhaltenden Wirtschaftskrise könnte der unkontrollierte Zustrom von Migranten nach Tunesien ein gefährlicher Funken für soziale Unruhen werden«, warnt Zied Meluli, ein Bürgerrechtsaktivist aus Sfax.
In Italien fürchtet man daher eine Wiederholung des 12. September. Über 7000 Menschen kamen an dem Tag auf Lampedusa an. Die Zahl der auf die Abfahrt Wartenden war einfach zu groß geworden, vermuten Aktivisten wie Meluli.

Meloni will mit ihrem sogenannten Mattei-Plan Tunesien den Anreiz geben, die eigenen Grenzen noch stärker zu überwachen. Innenminister Matteo Piantedoso und die Ministerin für Universität und Forschung unterzeichneten am Mittwoch eine enge Kooperation zwischen den Behörden und Universitäten beider Länder. Die Investitionen italienischer Firmen sollen Tausende neue Arbeitsplätze schaffen, jungen Tunesiern soll zugleich der Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt erleichtert werden. Am Abend flog Meloni weiter zu Konsultationen nach Brüssel. Nur ein Thema fand bei neuen italienisch-tunesischen Gesprächen kaum Beachtung: das Schicksal der auf den Olivenhainen lebenden Migranten und Flüchtlinge.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -