Suizide hinter Gittern

Die Zahl vollendeter Suizide in Berliner Gefängnissen hat sich in den letzten drei Jahren vervierfacht

Was der Freiheitsentzug mit einem Menschen macht, was es bedeutet, im Gefängnis zu sitzen, kann wohl nur beurteilen, wer selbst einmal einsitzen musste. Dass es für viele Gefangene kaum bis gar nicht aushaltbar ist, legen aktuelle Zahlen der Senatsverwaltung für Inneres nahe.

Demnach ist die Zahl der Suizidversuche in den Justizvollzugsanstalten in den vergangenen drei Jahren zwar von 33 (2021) auf 29 (2023) leicht gesunken. Allerdings hat sich die Zahl der vollendeten Suizide vervierfacht: von zwei auf neun.

Die Zahlen gehen aus einer Antwort der Innenverwaltung auf eine schriftlichen Anfrage der Linke-Abgeordneten Ferat Koçak, Niklas Schrader und Sebastian Schlüsselburg hervor. Die Zahlen ergeben, dass fast auschließlich Männer versuchten, sich selbst zu töten. Lediglich ein Suizid und ein Suizidversuch sind Frauen zugeordnet. Die Hälfte der registrierten 14 Suizide sei von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit verübt worden.

Auffällig ist, dass ein hoher Anteil junger Gefangener versucht hat, sich das Leben zu nehmen. 25 Personen waren erst 25 Jahre alt oder jünger. Allein in der Jugendstrafanstalt in Charlottenburg haben 2022 elf Gefangene versucht, Suizid zu begehen. Die Jüngsten waren erst 16 Jahre alt.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

In der Jugendstrafanstalt seien die Haftbedingungen besorgniserregend, erklärte Sebastian Schlüsselburg, rechtspolitischer Sprecher seiner Fraktion. »Das Gesetz sieht vor, dass Jugendstraftäter intensiver betreut werden, damit sie sich resozialisieren können.« 20 Suizidversuche in drei Jahren seien ein Alarmsignal. Er erwarte, dass die Justizsenatorin der Anstalt mehr Personal zuweist. »Im Justizvollzugsdienst sind rund 200 Stellen aktuell unbesetzt«, sagte Schlüsselburg »nd«.

Mit Blick auf den Anteil von Gefangenen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die versucht hätten, sich zu suizidieren, ordnete Schlüsselburg ein: »Die Frage ist, welche Gruppen sind in welchen Situationen besonders vulnerabel.« Vor allem die ersten Stunden des Gewahrsams seien psychische Ausnahmesituationen. Hinzu kämen hohe Belegungsquoten und niedrige Personaldecken. »Wenn mangelnde Sprachkenntnisse und Sprachmittlung dazu führen, dass Personen sich nicht ausdrücken können, verschärft das die Situation«, so Schlüsselburg.

Der Jurist Schlüsselburg verwies auf die Arbeit des ehemaligen rot-rot-grünen Senats. Bereits 2017 sei die Suizidprävention überarbeitet worden. Danach sei ein Rückgang der Zahlen beobachten worden. Da die Zahlen nun aber gestiegen seien, müsse die Prävention evaluiert werden. Ein entsprechender Antrag sei von der Koalition allerdings mit dem Argument abgelehnt worden, dass die Verwaltung dies bereits vollziehe. »Allerdings wissen wir, dass alle Verwaltungen unter Einsparerwartung stehen. Eine parlamentarische Entscheidung würde der Maßnahme Rückendeckung verschaffen«, sagte Schlüsselburg.

Vergleichbare Zahlen für den Freiheitsentzug durch Gewahrsam kann der Senat nicht vorlegen. »Freiheitsentzug ist die härteste Strafe unseres Rechtsstaats. Es ist kaum zu akzeptieren, dass die Polizei hier keine Dokumentation über Todesfälle und Suizidversuche im Gewahrsam vornimmt«, teilte Ferat Koçak (ebenfalls Linke) mit.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.