- Politik
- 300. Geburtstag
Russland und Deutschland streiten um Immanuel Kant
Zum 300. Geburtstag gerät Immanuel Kant in die Mühlen der aktuellen Politik
Bis heute tut sich Russland immer wieder schwer mit dem deutschen Erbe seiner baltischen Exklave Kaliningrad. Seit Jahren geht die Regierung gegen vermeintliche Germanisierungsversuche in »König« vor, wie die Einwohner ihre Stadt nach dem früheren Namen Königsberg nennen. Selbst der beliebte Gouverneur Anton Alichanow, der Gerüchten zufolge bald nach Moskau abberufen werden könnte, zog vor zwei Jahren den Zorn vieler Konservativer auf sich, als er im Fanblock des lokalen Fußballklubs per Megafon »König« den Sieg wünschte.
Am bekanntesten Einwohner der Stadt hegen aber auch die Russen keinen Zweifel. Der 300. Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant wird in Kaliningrad groß gefeiert. Und zugleich instrumentalisiert. Wie »alles, was man im Gebiet Kaliningrad sieht«, sei auch Kant eine »russische Trophäe«, sagte Alichanow bei einer Jubiläumsveranstaltung. Russland, so der Gouverneur, befinde sich »im Zentrum des stärksten kognitiven Kriegs«, in dem der Gegner »versucht, sich unter dem Deckmantel des Kantschen Erbes zu verstecken«.
Putin nennt Kant einen seiner Lieblingsphilosophen
Bereits im Februar hatte Alichanow Kant in die aktuelle Weltpolitik hineingezogen. Bei einer Politologenversammlung provozierte er mit der These, Kant sei »eine der geistigen Grundlagen des heutigen Westens«. Kant habe den Weg zum moralischen Relativismus des Westens vorgeprägt und trage damit gewissermaßen auch Schuld am Ukraine-Krieg, erklärte Alichanow. Russland im Gegensatz dazu halte an ewigen Werten fest.
Russlands Präsident Wladimir Putin, der 2013 verschlug, Kant zum Symbol des Gebiets Kaliningrads zu machen, bezeichnete den Philosophen Anfang Januar als einen seiner Lieblingsdenker. Es lohne sich, Kant zu lesen und zu versuchen, ihn zu verstehen, sagte Putin bei einem Treffen mit Angehörigen von in der Ukraine gefallenen Soldaten und trieb damals die Debatte um die Vereinnahmung des Philosophen voran.
Nachbarländer nennen Kaliningrad um
Beim Festakt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Kants 300. Geburtstag sprach Bundeskanzler Olaf Scholz Putin das Recht ab, sich auf den Philosophen zu berufen. »Putin hat nicht die geringste Berechtigung, sich auf Kant zu berufen«, sagte Scholz in seiner Rede. »Trotzdem bleibt Putins Regime bestrebt, Kant und sein Werk um fast jeden Preis zu vereinnahmen«, warf Scholz dem Kreml vor. Kants Vorstellung von Menschenrecht und Menschenwürde ebenso wie seine Gedanken zu Krieg und Frieden lassen sich laut Scholz nicht mit dem verbinden, was der russische Präsident in seinem Land und mit dem Überfall auf die Ukraine praktiziere.
Spätestens mit dem Krieg in der Ukraine ist neben Kant auch die gesamte Region Kaliningrad zum geopolitischen Spielball geworden. Abgesehen von der militärischen Bedeutung der Exklave bemühen sich die Nachbarstaaten, das Gebiet in ihrem jeweiligen nationalen Kontext zu deuten. Im Mai 2023 benannte Polen Kaliningrad offiziell in Królewiec um, da Kaliningrad eine »künstliche« Bezeichnung sei, die keine Verbindung zur polnischen Geschichte habe, begründete der damalige Wirtschaftsminister Waldemar Buda den Schritt. Kurz darauf zogen die baltischen Staaten nach und entrussifizierten Stadt und Region in ihren Sprachen.
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