Nato: Angriff als beste Verteidigung?

Auf einer Debatte zu 75 Jahren Nato wurde der Mythos von der defensiven Allianz gepflegt

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 5 Min.

In Andersens Märchen war es ein kleiner Junge, der mit seinem Ruf »Aber er hat ja nichts an« den Kaiser um seine imaginären Kleider brachte. Dieser Tage war es eine Berliner Ärztin, die im Potsdamer Stadtmuseum diese Rolle übernahm. Nach Vorträgen zum Thema »75 Jahre Nato und 25 Jahre Osterweiterung« erhielt sie als Fragestellerin das Wort. Die Nato sei ein Militärbündnis, das sich in seiner gesamten Geschichte niemals gegen den Angriff eines anderen Staates verteidigen musste, stellte sie fest. Stattdessen habe sie immer nur angegriffen. Und sie richtete an das Podium die Frage, mit welcher Berechtigung eine solche Allianz für sich reklamiere, ein »Verteidigungsbündnis« zu sein.

Zuvor hatte kein Geringerer als der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Generalmajor Wolf-Jürgen Stahl, bei dieser Abendveranstaltung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung diesen Begriff bemüht und in militärischem Stakkato die »gemeinsamen Werte« beschworen, auf deren Grundlage in diesem »System der kollektiven Verteidigung« verabredet sei, sich im Bedarfsfall gegenseitig zu helfen. Die Tatsache, dass es in den 50er, 60er und 70er Jahren keine faschistische Diktatur Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas gab, die nicht auf die Unterstützung des freien und demokratischen Westens setzen konnte, ist offenbar in dieses Werteschema einzuordnen.

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So war dann eben auch die Antwort Stahls auf die Frage der Ärztin ein Lavieren zwischen den bekannten unwürdigen Sophismen, mit denen der Westen seine Aggressionen immer bemäntelt hat. Was den Angriff auf Jugoslawien bzw. Serbien betreffe, habe es »völkerrechtliche Diskussionen« gegeben, und man könne dies »so oder so sehen«, beschied der General. Allerdings ließ er unerwähnt, dass der deutsche Hauptverantwortliche, der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD), den Bruch des Völkerrechts bereits eingeräumt hat.

Der Krieg gegen den Irak ab 2003 sei keine Nato-Aktion gewesen, erklärte Stahl. Vielmehr sei er von einer »Koalition der Willigen« geführt worden (bei denen es sich allerdings fast ausschließlich um Nato-Mitglieder handelte). Beim 20-jährigen Einsatz in Afghanistan ist für Stahl ohnehin alles klar: »Das subsumiere ich unter Verteidigung meines Vaterlands.« Ja, so einfach kann das Leben sein. Es ist dieses deutsche Zurechtlegertum, das uns in der ganzen Welt so beliebt macht.

Während die Nato bei den von ihr unterstützten Regimes nicht gerade wählerisch war, legte sie laut Stahl bei Russland strengere Maßstäbe an. Er teilte dem Publikum mit, dass die Nato-Mitgliedschaft Russlands um die Jahrtausendwende durchaus einmal im Gespräch gewesen sei. Unter dem britischen Nato-Generalsekretär George Robertson sei darüber »nachgedacht und diskutiert« worden.

Stahl zufolge hat sich Russlands damals neuer Präsident Wladimir Putin aber seinerzeit geweigert, einen förmlichen Antrag zu stellen, und bekundet, dies gelte »nur für normale Staaten«. Russland habe sich da in einer herausgehobenen Position gesehen. Dass aus alldem nichts geworden ist, kann den militärischen Ordnungssinn letztlich nicht unbefriedigt lassen, eine Nato-Mitgliedschaft Russlands hätte verstörend gewirkt. Stahl in entwaffnender Offenheit: »Die Frage ist, gegen wen man sich dann verteidigt.«

Was er in seinem kurzen Abriss der Nato-Geschichte, mit dem er die Zuhörer beschenkte, zu erwähnen vergaß: Schon in den 50er Jahren hatte die damalige Sowjetunion einen – übrigens auch förmlichen – Antrag auf Nato-Mitgliedschaft gestellt. Die feinsinnige ablehnende Antwort des Bündnisses sollte man sich in Gold auf einen Teller Meißner Porzellan malen: Die Nato würde andernfalls »ihren Sinn verlieren«. Dem proklamierten Recht osteuropäischer Staaten, der Nato beizutreten, steht die Tatsache gegenüber, dass Russland dieses Recht nicht gewährt wird.

Der Abend ließ bei den Teilnehmern keinen Zweifel daran, dass Nato-Staaten längst mit militärischem Personal in der Ukraine operieren. Moderator Norbert Arnold von der Konrad-Adenauer-Stiftung wollte dies »nicht ausschließen«.

Sicherheitsakademiepräsident Stahl verschwieg sein Unbehagen über diesen Umstand nicht: Das gebe dem russischen Präsidenten Putin die Möglichkeit zu entscheiden, ob er sich mit der Nato im Krieg befindet oder nicht. Einem Panzer sehe man es nun einmal nicht an, ob er für einen einzelnen Nato-Staat unterwegs sei, der auf eigene Faust handelt, oder für das gesamte Bündnis. Auf diese Weise überlasse man Putin die Initiative. Es wäre »aber besser, die Initiative selbst zu behalten«, meint Stahl.

Bezogen auf die 5000-Mann-Einheit, die Deutschland an der Nato-Ostflanke in Litauen stationieren will, machte der deutsche General unmissverständlich klar: Ein Angriff auf sie »wäre ein Angriff auf Deutschland«. Bei der Frage nach einem Ende des Ukraine-Krieges deutete Stahl an, dass eine Möglichkeit auch in einer Patt-Situation bestehe, bei der militärisch für keine Seite mehr etwas erreichbar sei. Für diesen Fall müsse man sich darüber im Klaren sein, dass besetztes Territorium »nicht mehr an den zurückgeht, dem es eigentlich gehört«.

Stahl zur Seite saß an diesem Abend der schwedische Militärattaché und Kapitän zur See Jonas Hård af Segerstad. Er wurde von Stahl als Repräsentant des Neumitglieds der Nato begrüßt und informierte darüber, dass sein Land in Lettland ein Bataillon stationieren werde. Segerstad bezeichnete es als »offenes Geheimnis«, dass Frankreich und Großbritannien bereits »Personal« in die Ukraine entsandt hätten. Auf die Frage, ob dieses Personal sich an »Feindseligkeiten« beteilige, antwortete er: »Wahrscheinlich nicht.«

Seit 2018 gibt es in Schweden wieder die Wehrpflicht. General Stahl mochte das für Deutschland nicht fordern. Er sprach sich aber für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht aus, die es einem jungen Menschen offenlasse, ob er in militärischem oder zivilem Bereich »sich für das Gemeinwohl einsetzt«.

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