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Kreuzung zwischen Roman und Reiseführer: Die Strandsammlerin
Ein poetisches Sachbuch erzählt (auch) von der Liebe zum Meer
»Ich lerne die Sprache des Meeres und des Strandes, Dialektwörter wie shoormal für Hochwasserlinie oder mareel für das Meeresleuchten, das durch bioluminiszierendes Plankton entsteht und bei dem das Meer wirkt, als ob es in den Herbstnächten von vielen winzigen Laternen beleuchtet wäre.«
Sally Huband schreibt diese Sätze im einleitenden Text für das vorliegende Buch, als sie längst vertraut ist mit dem Meeresleuchten, den Schätzen und Geschichten, die das Meer ihr offenbart. Als sie 2011 mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn nach Shetland zog, ahnte sie nicht, dass sie dort mit ihrem Studienabschluss als Umweltwissenschaftlerin weder Arbeit finden noch ein normales Leben führen würde. Lakonisch fasst die 1974 geborene Autorin den Beginn ihrer Umwandlung zusammen: »Im ersten Jahr nach unserem Umzug fand ich keinen Job und hatte zwei Fehlgeburten.«
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Ihr Mann ist Hubschrauberpilot und fliegt zu den Bohrinseln in der Nordsee und im Nordostatlantik, Sally bleibt mit dem Kind zu Hause. Vor ihrem Umzug war es ein aufregender Gedanke für sie, bald an einem Ort zu wohnen, der von Norwegen und den Färöer-Inseln genauso weit entfernt ist wie das schottische Festland. Eine Insel mit eigener Identität und Sprache, die erst seit dem 15. Jahrhundert zu Schottland gehört. Parallel zum Ankommen in der rauen Realität einer kargen, von Winden und Stürmen gepeitschten Insel lernt die junge Frau sich selbst als gesellschaftlich nicht gebrauchtes und obendrein krankes, zerbrechliches Wesen kennen.
Zunächst wird sie wieder schwanger, behält das Kind und bringt eine Tochter zur Welt. »Es war eine glückliche Zeit.« Wenig später stellt sie fest, dass sie unter ständigen Schmerzen in den Hand- und Beckengelenken leidet. Ihr Wunsch, die 2700 Kilometer Küstenlinie ihres Archipels zu Fuß zu erkunden, bleibt Wunschdenken. Es soll Jahre dauern, bis sie eine Ärztin findet, die ihre Krankheit als autoimmunen Rheumatismus diagnostiziert und ihr die richtigen Medikamente verschreibt.
Um sich von ihren Schmerzen und der frustrierenden Jobsuche abzulenken, beginnt Sally Huband, Strandgut zu sammeln. Sie eröffnet sich eine Welt, die zunehmend komplexer wird. Bald reist sie über die Shetland-Inselkette, zu den Faröern und in die Niederlande, sammelt immer neue Strände. Ihr Traumobjekt, um das sich alles Sehen dreht, ist die Seebohne (Sea Bean), die, aus tropischen Gefilden durch Meere geschwemmt, an nordischen Stränden landet. Manchmal, immer seltener. In Nordeuropa galt die Seebohne vor allem Frauen als Glücksbringer.
Im Frühjahr 2024 ist Sally Hubands Buch »Die Strandsammlerin« auf Deutsch im Dumont Reiseverlag (2023 auf Englisch als »Sea Bean« in London) erschienen. Die Übertragung aus dem Englischen von Heike Schlatterer ist behutsam und gleichzeitig kraftvoll, der deutsche Titel in seiner Doppeldeutigkeit gut gewählt.
Der Erstling beeindruckt durch seine Genreüberschreitung und Komposition. Zeitversetzt erzählt Sally Huband ihre persönliche Geschichte verschränkt mit Themenkomplexen, nach denen die Kapitel benannt sind. Zum Beispiel: Nordwärts (das Ankommen), die Seebohne, Maalie – der arktische Eissturmvogel, Strandjutter – Strandgutsammler, Haaf Fish – die Kegelrobbe, Hexen. Bei jeder Recherche oder Erfahrung gleicht die Autorin ab, was ihr widerfährt. Ihre feministische Haltung ist weniger anklagend als aufklärend. Ihre Reflektionen sind humorvoll und selbstkritisch, geschult durch Krankheit und Versagensängste. »Die Strandsammlerin« ist entblößend aufrichtig und in außerordentlicher literarischer Qualität verfasst.
Für einen Reiseführer bietet das Buch erstaunlich viel Persönliches – für einen Roman, als solchen bewirbt der Verlag das Buch auf seiner Homepage, bietet es zu wenig Fiktion. Man glaubt der Autorin, wenn sie über das wissenschaftliche Sezieren des Eissturmvogels schreibt: Er »wurde somit zum ökologischen Monitor für die Vermüllung des Meeres« – wir wissen mittlerweile, »dass 93 Prozent der Nordatlantischen Eissturmvögel Plastik im Magen haben und dass die durchschnittliche Zahl der Plastikteile im Magen eines Vogels bei zwanzig liegt. Auf den Menschen umgerechnet, wäre das eine Vesperdose voll mit Plastik.« Einen Absatz später schreibt sie, dass die Plastikbelastung in der Nordsee abnimmt, wenn auch sehr langsam. »Trotzdem ist das ein Hoffnungsschimmer, an den man sich klammern kann, wenn man an einem Strand voller Plastikmüll steht.«
Diese Ausgewogenheit macht das Buch erträglich wie liebenswert. Auf die Erklärung Sally Hubands, was Solastalgie bedeutet – das Gefühl des Verlusts angesichts der Zerstörung der eigenen Heimat – folgt ein Abschnitt über ihren Fund eines Hummerfallen-Etiketts mit dem Aufdruck »Netukulimk« aus Nova Scotia/Kanada, der sie in Kontakt bringt mit einer Initiative, die indigene Fischer bei der Beantragung von Lizenzen unterstützt.
Sally Huband versendet und beantwortet Flaschenpost, engagiert sich für Frauenrechte in Shetland, beringt Vögel, rettet gestrandete Schweinswale, erforscht Strandsammelgesetze und Hexenprozesse – und sucht weiter nach einer Seebohne. Ihr vielfältiges Buch enthält ihre Zeichnungen von Vögeln, Eikapseln und Landkarten – man kann diese Strände abreisen und sammeln – und ein Glossar mit den von ihr verwendeten Shaetlan-Begriffen. Zum Beispiel: mareel: Meeresleuchten im Herbst. Oder voe: schmaler Meeresarm.
»In den dunklen Wintermonaten bekommen wir manchmal eine Nachricht von den Nachbarn, dass wir vors Haus gehen sollen, weil gerade Polarlichter am Himmel leuchten. Und das ganze Jahr über kann das Telefon klingeln, weil jemand anruft und berichtet, dass Wale in den voe geschwommen sind. Dann rennen wir alle in die Küche, um vom Fenster aus die schmale Bucht nach ihren Rückenflossen abzusuchen.«
Sally Huband: Die Strandsammlerin. Dumont Reiseverlag Ostfildern 2024, 350 S., 18,95€.
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