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Streikforscher: »Gewerkschaften werden stärker«

Alexander Gallas über die neue Welle der Arbeitskämpfe und französische Verhältnisse

  • Interview: David Bieber
  • Lesedauer: 5 Min.
Mehr Neumitglieder, mehr Streiks: Derzeit befinden sich die Gewerkschaften im Aufwind.
Mehr Neumitglieder, mehr Streiks: Derzeit befinden sich die Gewerkschaften im Aufwind.

Zuletzt häufen sich die Streiks branchenübergreifend. Woran liegt das?

Entscheidend sind meines Erachtens drei Gründe. Erstens haben sich die Reallöhne schwach entwickelt. 2022 sind sie um vier Prozent gesunken. Menschen mit niedrigen Löhnen spüren das direkt im Portemonnaie. Zweitens gibt es in vielen Branchen Arbeitskräftemangel. In der Streikforschung gehen wir davon aus, dass Beschäftigte eher bereit sind, ins Risiko zu gehen und sich zu exponieren, wenn sie keine Arbeitslosigkeit fürchten müssen. Drittens – und damit zusammenhängend – sind sehr viele Beschäftigte überlastet. Vielerorts schultern zu wenige zu viele Aufgaben. Der Stress führt zu einem hohen Krankenstand, was die Situation weiter verschlimmert. Ein Beispiel ist die Bahn. Der Personalstand ist seit der Wende 1989/90 um mehr als die Hälfte gesunken. Viele Bahnbeschäftigte schildern ihren Arbeitsalltag als extrem anstrengend. Es ist also nicht verwunderlich, dass die GDL in ihrem Streik eine deutliche Verkürzung der Arbeitszeit gefordert hat – und diese Forderung sich als sehr zugkräftig erwies.

Interview

Alexander Gallas ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Er forscht zu Arbeitsniederlegungen von Beschäftigten im Dienstleistungssektor und im öffentlichen Dienst und deren Beitrag zu Klassenbildungsprozessen.

Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi hat erklärt, dass die jüngsten Streiks keine generelle Zunahme bedeuten. Teilen Sie diese Einschätzung?

Die Kolleg:innen vom Streikmonitor an der Universität Erfurt haben gemeldet, dass sich das Streikgeschehen in der ersten Hälfte des Jahres 2023 intensiviert hat. Das ist eine vorläufige Beobachtung; genauere Zahlen für 2023 haben wir noch nicht, schon gar nicht für 2024. In den vergangenen Jahren war es aber so, dass in Frankreich vier- bis fünfmal so viel gestreikt wurde wie in Deutschland. Also: französische Verhältnisse sind es eher nicht, aber doch mehr Streiks.

Es scheint, dass die Gewerkschaften an Macht zurückgewinnen. Man denkt nur an die Mitgliederzuwächse bei Verdi. Woran liegt das?

In den Nullerjahren übten sich manche der Gewerkschaften in Zurückhaltung, was das Streiken anbetraf. Sie setzten eher darauf, über Zusammenarbeit mit den Unternehmensführungen Arbeitsplätze zu sichern, und nahmen dafür auch Verschlechterungen in Kauf. Angesicht der ungünstigen Kräfteverhältnisse damals ist das nachvollziehbar. Aber diese Vorgehensweise hat sich nicht bezahlt gemacht. Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften gingen runter, genauso die Tarifbindung – und die Lohnentwicklung war auch schwach. Darüber hinaus hat sich der Niedriglohnsektor erheblich ausgedehnt, was nicht nur unsichere Lebensverhältnisse für die Betroffenen bedeutet, sondern die Gewerkschaften vor schwierige strategische Herausforderungen stellt. Denn prekär Beschäftigte sind tendenziell schwieriger zu organisieren.

Was hat sich geändert?

Seit etwa zehn Jahren deutet sich ein Strategiewechsel an. Die Gewerkschaften streiken wieder mehr, und mancherorts haben sie auch beträchtliche Erfolge erzielt. Das jüngste Beispiel ist die Tatsache, dass es der GDL gelungen ist, die 35-Stunden-Woche im Schichtdienst durchzusetzen. Die Verschiebung hin zu mehr Streiks spiegelt die Tatsache wider, dass sich die Ausgangsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt – Stichwort Arbeitskräftemangel – verbessert haben. Und wenn Gewerkschaften streiken, ist es für die Beschäftigten sehr einfach zu greifen, was Interessenvertretung bedeutet. Das macht die Gewerkschaften attraktiver. Ein Anreiz zum Eintritt ist darüber hinaus, dass man sich zwar an einem Streik beteiligen darf, wenn man kein Gewerkschaftsmitglied ist, dann aber kein Anrecht auf Streikgeld hat. Letzteres wird aus den Streikkassen der Gewerkschaften finanziert.

Kann Streik eigentlich als Form des zivilen Ungehorsams betrachtet werden?

Der zivile Ungehorsam ist eine Praxis des politischen Protests, bei der bewusst gegen bestehende rechtliche Normen verstoßen wird. Die meisten Streiks in Deutschland sind nach der herrschenden Rechtsprechung zulässig; insofern fallen sie nicht unter diese Kategorie. Es gibt aber auch wilde Streiks. Ein Beispiel: Beim Lebensmittellieferdienst Gorillas in Berlin haben Beschäftigte im Oktober 2021 ihre Arbeit niedergelegt. Sie protestierten dagegen, dass sie nicht pünktlich bezahlt wurden, und ihre Fahrräder unsicher waren. Der Gorillas-Streik ging aus einem Selbstorganisationsprozess hervor. In Deutschland dürfen aber nur Gewerkschaften zum Streik aufrufen. Die Streikenden haben also Regeln übertreten, als sie sich gegen von ihnen erfahrenes Unrecht aufgelehnt und ohne Gewerkschaft die Arbeit niedergelegt haben. Hier gibt es Parallelen zu klassischen Formen des zivilen Ungehorsams, etwa der Blockade von Castortransporten.

Eine Forderung angesichts der Wellenstreiks im ÖPNV in NRW und anderswo war, dass das Streikrecht in Deutschland verändert wird. Das hieße Nachteile für Gewerkschaften und Beschäftigte, oder?

Das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Denn das Streikrecht ist ein demokratisches Grundrecht. Es ermöglicht den Beschäftigten, ihre Arbeitsbedingungen und damit die Gesellschaft insgesamt mitzugestalten. Es gibt ein Machtungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital: Einzelne Beschäftigte sind normalerweise weit abhängiger von ihrem ›Arbeitgeber‹ als umgekehrt. Und das Streikrecht gibt ihnen überhaupt erst die Möglichkeit, Verhandlungen zu führen, die diesen Namen verdienen. Das hat das Bundesarbeitsgericht 1980 übrigens in einem wegweisenden Urteil anerkannt. Dort heißt es, dass »Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik im Allgemeinen nicht mehr als ›kollektives Betteln‹« seien.

Wie wirken sich die multiplen Krisen auch international auf die Gewerkschaften aus?

Die Entwicklungen der vergangenen Jahre deuten darauf hin, dass die Gewerkschaften wieder stärker werden. Wenn man so will, sind mehr Menschen vor den Werkstoren – oder auf der Straße. Und das gilt nicht nur für Deutschland. Auch in den USA – jahrzehntelang ein Land, in dem davon ausgegangen wurde, dass die Gewerkschaften am Boden liegen – feiern sie Erfolge. Jüngst haben die Arbeiter*innen in einem VW-Werk in Tennessee dafür gestimmt, dass sie von der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) vertreten werden wollen. Ein wichtiger Sieg, da sich das Werk in einer traditionell gewerkschaftsfeindlichen Region befindet, und es der UAW bislang nicht gelungen ist, in den Werken ausländischer Hersteller im Süden Fuß zu fassen.

Wie kann das auch über den 1. Mai hinaus verstärkt werden?

Das Machtungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital bedeutet, dass die allermeisten Beschäftigten ihre Arbeits- und Entlohnungsbedingungen nur dann nachhaltig verbessern können, wenn sie gemeinsam handeln. Das ist das Prinzip der Solidarität. Am Ende sind alle sozialen und demokratischen Errungenschaften unserer Gesellschaft darauf zurückzuführen, dass sich Menschen zusammengeschlossen und für Veränderung gekämpft haben. Kundgebungen und Demos am Maifeiertag sind eine gute Sache. Aber es ist wichtig, diese Einsicht auch im Alltag zu beherzigen.

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