- Kultur
- Stephanie Bart
»Auf flacher Hand im grellen Tageslicht«
Ein Gespräch mit Stephanie Bart über den Herrschaftsblick auf die RAF, Aktivismus gegen Tesla und den Umgang mit apokalyptischen Zukunftsperspektiven
Du hast viele Jahre an einem Roman über die Rote Armee Fraktion gearbeitet, der »Erzählung zur Sache«. Hast du damit gerechnet, dass der Staat in puncto RAF-Verfolgung noch mal so betriebsam wird?
Diese drei Gesuchten sind ja immer mal wieder in den Medien präsentiert worden, es wurde gesagt: »Wir suchen die noch, die sind total gefährlich, da gab es einen Überfall auf einen Geldtransporter«, sodass man auch wusste, für wen die gefährlich sind und so weiter. Und jetzt haben sie eine von denen gekriegt und der Hass, der da überall hochkommt, ist identisch mit dem von damals. Darüber war ich ein bisschen überrascht, weil ich schon damit gerechnet hatte, dass so viel Zeit zwar nichts heilt, aber Abstand schafft, Gefühle kühlt. Außerdem dachte ich, es macht doch einen großen Unterschied, ob die Gruppe aktiv ist und Anschläge verübt oder ob es sie gar nicht mehr gibt.
Stephanie Bart ist Schriftstellerin. Sie hat Ethnologie und Politische Wissenschaften in Hamburg studiert und lebt seit 2001 in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der RAF-Roman »Erzählung zur Sache« (2023, Secession-Verlag Berlin).
Diese sogenannte dritte Generation der RAF, der Daniela Klette, Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub angeblich angehört haben, hat 1998 ein Auflösungspapier veröffentlicht, in dem sie schreiben, seitdem sie vor einem Jahr die Eskalation zurückgenommen haben, hätte der Staat die Verfolgung teilweise noch verschärft.
Gut, dass du »sogenannt« sagst. Ich möchte kurz einen Einwurf machen zum Generationenbegriff. Es wird ja von der RAF in Generationen gesprochen, aber das ist unzutreffend. Es wäre nur dann zutreffend, wenn die RAF nur zu bestimmten Zeitpunkten rekrutiert hätte. Der Prozess war ein anderer. Leute haben sich dazu entschlossen und zugesehen, wie sie es in die Tat umsetzen können. Es würde die RAF besser beschreiben, wenn man sie nach ihren Aktionen, Erklärungen und Strategiepapieren unterscheiden würde. Dann hätte man anstatt generationaler Gruppen eben Gruppen von Leuten, die zusammen gedacht und gehandelt und ihr Handeln erklärt haben.
Ich teile deine Kritik am Konzept Generation, zum Beispiel auch in Bezug auf »68«, das schon als Schlagwort problematisch ist. Der Begriff ist so beliebt in der bürgerlichen Gesellschaft, weil er so unpolitisch ist. So wird die politische Entscheidung für eine bestimmte Haltung zur biografischen Notwendigkeit erklärt – die sich eben mit der Zeit auch notwendig ändert.
Zum Beispiel der Begriff »Boomer«, mit dem jetzt eine Generation verantwortlich gemacht wird für das, wofür tatsächlich eine Klasse verantwortlich ist.
Würdest du sagen, dass die Konstruktion von Generationen zur Beschreibung der RAF derselben entpolitisierenden Logik folgt?
Zuallererst wurde der Generationenbegriff bezüglich der RAF von der Polizei verwendet. Ich weiß nicht, wie viel Wissen und Bewusstsein in diesen Behörden vorhanden ist. Es ist aber klar, dass das in ihren Denkstrukturen enthalten ist.
Genau wie ein Denken in Strukturen, die auf Autorität basieren. Das durchzieht ja diese Gesellschaft von oben bis unten, buchstäblich. Das begegnet einem immer wieder – nicht nur in Bezug auf die RAF –, dass die Polizei davon ausgeht, dass alles in der Linken auch »top-down« angeordnet wird.
Wo wir gerade bei Begriffen sind, könnten wir auch noch mal einen Satz zum Begriff des Terrorismus verlieren. Er hat seine Bedeutung in der Französischen Revolution erhalten. Er beschreibt das Moment, in dem eine ursprünglich emanzipatorische Kraft umschlägt in eine reaktionäre Kraft. Das passiert, wenn die Bewegung der Staatsgewalt innewird und ihre Gewalt nicht mehr gegen die herrschende Klasse richtet, die sie ja selbst geworden ist, sondern gegen die Bevölkerung. Es beschreibt die Rote Armee Fraktion nicht, wenn man sie als »Terroristen« bezeichnet, weil sie ihre Gewalt nicht gegen die Bevölkerung gerichtet hat, sondern gegen die herrschende Klasse.
Der Historiker und Gewaltforscher Robert Wolff sagt: »Terrorismus ist der Einsatz politischer Gewalt durch nicht staatliche Akteure, also von unten, um Angst zu verbreiten und politische Ziele zu erreichen. Terror ist staatliche Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung, also von oben, um Kontrolle durch Angst zu erlangen«. Er benützt zwei grammatische Formen – das abstrakte und das konkrete Substantiv – ein und desselben Begriffs für teilweise gegenläufige Bewegungen, schon von daher ist diese Unterscheidung sinnlos. Mit ihr müssen NSU und RAF in einen Topf geworfen werden, und das ist das ideologische Ziel dieser Unterscheidung: den politischen Inhalt unsichtbar zu machen. Es ist das Wort »verbreiten«, das bedeutet, dass der Terror des Terrorismus in die Breite, also gegen die Bevölkerung geht und nicht gegen die schmale herrschende Klasse.
Jetzt sind wir etwas abgekommen von der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Militanz, das die RAF in ihrer Erklärung zum Anschlag auf die JVA Weiterstadt 1993 aufgreift. Sie schreiben: »Wir haben die Eskalation zurückgenommen und trotzdem machen die weiter mit ihrer Repression.«
Was die da konstatieren, ist ein kontinuierlicher Prozess. Ich erinnere mich an die damalige Polizeigewalt-Debatte. Es gab Gewaltmessungen bei linken Demonstrationen: Wie viel Sachschaden entsteht? Wie viele Verletzte gibt es auf beiden Seiten? Müssen die Leute ins Krankenhaus oder können sie sich zu Hause ein Pflaster aufkleben? Und so weiter. Was man da feststellt, ist, dass es eine Hochphase gewalttätiger Aktionen vonseiten der Demonstrierenden etwa um 1967 gab und die Gewalt von dieser Seite seitdem kontinuierlich abnimmt. Aber die Ausrüstung der Polizei, ihre Befugnisse und ihr Personal nehmen kontinuierlich zu. Die rüsten einfach immer auf, unabhängig davon, wie viel Gewalt ihnen von linken Demonstrationen entgegenschlägt.
Daran kann man auch sehen, dass der Staat idealerweise gar keine radikale Linke haben will.
1972 musstest du noch bewaffneten Kampf machen oder unterstützen, heute reicht es, wenn du dich an der Straße festklebst, damit du kriminalisiert wirst. Das ist eine extreme Eskalation vonseiten des Staates.
Der bereitet sich halt auch immer darauf vor, dass mal wirkliche soziale Unruhen passieren.
Das muss er auch wegen der sich zuspitzenden Widersprüche. Und die Firmen, die die Repressionstechnologie privatwirtschaftlich herstellen – vom Polizeiknüppel bis zum Robo-Cop-Dog – müssen mit dem allgemeinen Wirtschaftswachstum mitwachsen. Gleichzeitig wird jetzt vor aller Augen ein Krieg vorbereitet. Der Krieg ist die Antwort des Kapitals auf seine ihm inhärenten Krisen und ein herausragendes Feld der Akkumulation. Es werden neue Munitionsfabriken gebaut und ein Sondervermögen für die Bundeswehr eingerichtet. Rosa Luxemburg würde sagen: »Es liegt auf flacher Hand im grellen Tageslicht.« Die Bundesrepublik bereitet eine militärische Auseinandersetzung vor, das heißt eine neue Schlachtbank für das Proletariat.
Zurzeit läuft auch das größte Nato-Manöver seit Jahrzehnten, mit 90 000 beteiligten Soldaten. Und hier in Deutschland findet bis in alle Ecken eine Militarisierung statt. Zum Beispiel gibt es aus der Politik den Vorschlag, dass die Schulen Luftschutzübungen durchführen sollen. Sowohl in Bezug auf die Kriegstreiberei als auch auf die Hetze gegen die RAF sind übrigens die Medien an vorderster Front. Journalist*innen kritisieren Olaf Scholz von rechts, dass er jetzt endlich mal die Panzer an die Ukraine ausliefern soll.
Wir sind im Endstadium dieser Zivilisationsform.
Du meinst, entweder geht alles unter oder es muss was Neues her?
Die vom Kapital induzierte Klimakatastrophe wird die Warenzirkulation zum Erliegen bringen, indem Brände, Überflutungen und Austrocknungen auch Verkehrswege betreffen und indem die fossilen Brennstoffe, mit denen der Warentransport betrieben wird, wie auch das Lithium für die E-Mobilität und so weiter, aufgebraucht sein werden. Damit ist das Ende des Kapitals besiegelt, weil es nicht ohne Warenzirkulation existieren kann. Damit ist nicht die Herrschaft des Menschen über den Menschen besiegelt, sondern nur diese spezifische, die kapitalistische Form der Herrschaft. Aber bevor es so weit ist, werden Massen von Menschen verhungern, verdursten und ertrinken, zu schweigen von direkten Ermordungen an den Grenzen, zum Beispiel durch Frontex. Es stehen alle möglichen Formen von gewalttätigen Auseinandersetzungen bevor, die als Verteilungskämpfe bezeichnet werden. Sie sind schon im Gange, es werden mehr.
Ich finde das alles unfassbar bedrohlich.
Die Geschichte zeigt, dass eine Transformation zu einer anderen Produktionsweise überhaupt nicht möglich ist ohne die bewaffneten Einheiten der jeweils herrschenden Klasse, heute des Kapitals. Wenn man das gute Leben für alle wirklich will, muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass es ohne diese Personengruppen, ohne Polizei, Militär etc., nicht machbar ist. In meinem Artikel »Erklärung zur Gewaltfrage«, der im März in »ak« erschienen ist, habe ich gesagt, dass das Privateigentum an der Erde es unabdingbar macht, die Enteigneten, die Nicht-Eigentümer*innen, zu spalten, sie gegeneinander aufzubringen, weil sie im Zusammenschluss viel mehr und viel stärker sind als die Privateigentümer*innen. Tatsache ist nun, dass das Kapital ohne die Spaltung der Bevölkerung in bewaffnete Einheiten, die sein Privateigentum an der Erde durchsetzen, und den unbewaffneten Rest genauso wenig existieren kann wie ohne die Warenzirkulation. In dem Sinne ist »ACAB« zu sagen genau das, was das Kapital für seine Herrschaft braucht.
Dazu fällt mir der Roman »Wird Zeit, dass wir leben« von Christian Geißler ein. Da geht es um die Konflikte in der KPD vor 1933 zum Thema bewaffneter Kampf und Geißler bezieht sich auf einen historischen Fall eines Polizisten, der Verrat an seinen Kollegen beging und zu den Kommunisten übergelaufen ist. Für das, was ich unter kommunistischer Literatur verstehe, ist das ein wunderbarer Plot.
Ja, nur hat er offenbar die Polizei nicht erreicht. Das Kapital verbrennt diesen Planeten in seinem Reproduktionsprozess. Und wenn wir das ändern wollen, dann wird es ohne Polizei nicht laufen, weil sie bewaffnet ist und wir sind es nicht. Die Guerilla-Taktik ist nicht mehr geeignet, die bewaffneten Einheiten des Kapitals, von denen die Polizei nur ein Teil ist, nachhaltig militärisch zu besiegen. Kolonisierte Bevölkerungen haben von den 50er Jahren bis in die 70er imperialistische Kolonialmächte mit Guerilla-Taktiken militärisch geschlagen, und die imperialistischen Mächte haben daraus gelernt, sich die Taktiken angeeignet, zum Beispiel die GSG 9 gebildet, und Anti-Guerilla-Strategien entwickelt. Und wenn es möglich wäre, so würden sie als Besiegte die neue Ordnung bekämpfen.
Du hattest vorhin schon das Phänomen des Rückgangs der Massenmilitanz in den 70ern angesprochen. In diesem Zusammenhang sehe ich die RAF mit ihrem Avantgarde-Konzept auch als Ausdruck einer Frustrationserfahrung, als Ausdruck von Schwäche eigentlich.
Im RAF-Strategie-Papier »Das Konzept Stadtguerilla« von 1971 heißt es: »Das Konzept Stadtguerilla ist die revolutionäre Interventionsmethode von insgesamt schwachen revolutionären Kräften.« Und ja, die Frustration ist die Erfahrung, dass Reden nichts ändert. Jetzt finde ich es wichtiger, zu sehen, wie sich Militanz als Aktionsform seitdem weiterentwickelt hat. Der Anschlag der Vulkangruppe auf den Strommast, der Tesla versorgt, ist ein interessantes Beispiel. Das Tesla-Werk ist ein Brandbeschleuniger der Klimakatastrophe, und diesen Brandbeschleuniger haben sie für eine Woche stillgelegt, ohne irgendjemandem ein Haar zu krümmen und ohne einen anderen Sachschaden als die Zerstörung des Strommasts zu verursachen. Natürlich ist der Produktionsstillstand auch ein Schaden, aber eben der beabsichtigte für Tesla und bloß ein finanzieller, für Land und Leute ist er ein Segen.
Und wie beurteilst du die Vermittelbarkeit dieser Aktion gegenüber der Tesla-Belegschaft und der Bevölkerung?
Dass dabei keine Person auch nur berührt worden ist, vermittelt sich selbst. Ich habe nicht alle Reaktionen verfolgt, aber im Ganzen den Eindruck gewonnen, dass diese Aktion der Vulkangruppe sich auch darin deutlich unterscheidet von den Aktionen der Roten Armee Fraktion, dass es heute offenbar eine starke Verbindung gibt zu denjenigen Linken, die es für sich selbst ablehnen, etwas Illegales oder Gewalttätiges zu machen. Dann ist auch die Kommunikation nach außen signifikant verbessert. Es gab ja noch die Entschuldigung an die Bevölkerung für ein paar Stunden Stromausfall in den Privathaushalten, wo ich sagen würde, zugewandter geht es wirklich nicht. Und eigentlich hat sich ja nicht die Vulkangruppe zu entschuldigen, sondern die Bevölkerung hat sich zu bedanken bei der Vulkangruppe, dass sie der Erde, auf der und von der die Bevölkerung lebt, und damit auch ihr selbst, eine Pause in dem Tesla’schen Vernichtungswerk verschafft hat. Bei den Tesla-Arbeiter*innen, die dagegen demonstriert haben, darf man nicht vergessen, dass sie von Tesla abhängig sind und einen Betriebsrat haben, der sie dazu aufruft, gegen ihre eigenen elementarsten Lebensinteressen zu agieren.
Strategisch ist die Aktion brillant. Denn wenn seine Maschinen stillstehen, verbrennt das Kapital sich sozusagen selbst, da ist sein Profit angegriffen. Und wo es keinen Profit machen kann, geht das Kapital weg, denn das Profitmachen ist sein alleiniger Zweck. Wenn man das Ökosystem erhalten will, dann ist es richtig und zielführend, diese ökozidale Produktion von SUVs durch Sabotage unrentabel zu machen. Während die RAF am Anfang die Kriegsmaschinerie angegriffen hat und später die Individuen, die über Produktion und Krieg entscheiden, hat die Vulkangruppe die Produktion selbst angegriffen und mit ihr den Profit. Das scheint mir der kürzeste und beste Weg zu sein, die Erde und mit dieser uns selbst zu retten.
Was heißt es eigentlich angesichts staatlicher Repression gegen linken Aktivismus, »anders« mit der Polizei umzugehen? Die gehen ja erst mal ihrerseits auf uns los ...
Ja klar. Ulrike Meinhof hat am Anfang noch gesagt: »Der Bulle, der uns laufen lässt, den lassen wir auch laufen.« Den gab’s zwar nicht, aber dennoch ist das meines Erachtens die richtige Haltung gegenüber dieser Personengruppe: Selbstverteidigung, aber kein initiativer Angriff. Ich weiß nicht, wie man Polizist*innen erreichen kann, aber ich habe mit Linken geredet, die welche in ihren Herkunftsfamilien haben und darüber nachdenken, sie auf der privaten Ebene im Gespräch zu adressieren und sich mit diesem Anliegen zu vernetzen. Das wäre ein guter Anfang.
Wenn man als Linke Gewalt anwendet, muss man die Messlatte dafür sehr hoch legen. Da muss sich was grundsätzlich unterscheiden von staatlicher oder rechter Gewalt – und da kommt eben das Motiv der Rache ins Spiel. Ein persönliches Rachebedürfnis zu haben, ist zwar nachvollziehbar, aber darf in der Praxis kein Grund sein für linke Gewalt.
Weil die Rache ja auch nur in der Tauschlogik funktioniert. Wenn man zum Beispiel einen Strommast zerstört, ohne dass dabei irgendeine Person verletzt wird, muss man eigentlich nur überlegen, wie man das möglichst effektiv und sicher machen kann. Aber wenn man tatsächlich Gewalt gegen Personen anwenden muss, dann macht das was mit der Person, die es tut. Das ist eine historische Erfahrung auf beiden Seiten der Barrikade, und die muss reflektiert werden. Das habe ich in meinem Roman auch kritisiert, dass das ein Punkt war, den die Gruppe der RAF, von der der Roman handelt, nicht reflektiert hat. Jedenfalls habe ich keine Spuren einer solchen Reflexion in ihren Papieren gefunden: Was macht es mit mir, wenn ich Gewalt gegen Personen anwende?
Das wäre ja nun das Thema der Selbstkritik, der Auswertung von dem, was auch an Gewalt stattgefunden hat. Einen Grund, warum keine differenzierte Auseinandersetzung mit dem psychologischen Aspekt, der mentalen Gesundheit stattgefunden hat, sehe ich in einer falsch verstandenen Psychiatriekritik. Teile der Leute aus dem bewaffneten Kampf kamen ja aus diesem Kontext des Sozialistischen Patientenkollektivs. Die Kritik der bürgerlichen Institution der Psychologie geht zu Recht davon aus, dass es darin immer ein entpolitisierendes Moment gibt, ein Moment der Individualisierung eigentlich gesellschaftlicher Vorgänge. Aber auf dieser Basis jede Form von Auseinandersetzung auf der psychologischen Ebene abzulehnen, ist doch auch ein Fehler. Eine gewisse Härte kam in meinen Augen aber noch woanders her. Die Gründer*innen der RAF sind ja alle im Faschismus geboren, Ulrike Meinhof zum Beispiel ist noch in die nationalsozialistisch organisierte Grundschule gegangen. Die waren also selbst ein Stück weit geprägt von der Härte, die den Faschismus charakterisiert.
Das ist die Härte des Kapitals. Das Kapital führt Vernichtungskriege, es setzt die Bedingungen, mit denen wir umgehen müssen.
Du hast recht, dass der Faschismus nichts anderes ist als eine besonders rigorose politische Organisationsform der kapitalistischen Produktionsweise. Aber darin ist er eben trotzdem etwas Spezifisches – die Schule im NS war doch anders als beispielsweise die Schule in der BRD der 80er Jahre, die ich besucht habe. Der autoritäre Charakter legt eine andere Sorte von Härte gegen sich und andere an den Tag als das neoliberale Individuum.
Die Unterschiede springen ins Auge. Aber das neoliberale Individuum ist selbst ein autoritärer Charakter. Es muss sich pausenlos optimal ausbeutbar machen und ist dabei gezwungen, die Massengräber im Mittelmeer und in der mexikanischen Wüste und Krieg und Hunger als Normalzustand hinzunehmen, es muss seine Menschlichkeit ebenso in sich abtöten wie das faschistische Individuum. Darauf laufen die unterschiedlichen Härten hinaus. Liberalismus und Faschismus sind die zwei Seiten einer Medaille beziehungsweise Münze beziehungsweise Banknote.
Ich würde trotzdem sagen, es gibt Vergesellschaftungsformen, so eine liberale Demokratie zum Beispiel, die unabhängig von bestimmten Milieus oder Klassenstandpunkten auf einer Offenheit gegenüber diversen Lebensweisen basiert. Die kapitalistischen Härten sind hier faktisch anders organisiert als im Nationalsozialismus.
Ja und nein. Diverse Lebensweisen müssen mühsam gegen große Widerstände erkämpft werden. Personen mit Gebärmutter dürfen nicht einmal über ihren eigenen Körper bestimmen und damit auch keine Lebensweise wählen – weil Kind weil Zeit. Machen sie Gebärstreik, kommt gleich ein Feuilleton-Onkel und erklärt ihre körperliche Selbstbestimmung für toxisch.
Für Behinderte, chronisch Kranke, Rassifizierte, Marginalisierte und Antifaschist*innen ist die liberale Demokratie ganz erheblich weniger tödlich als der offene Faschismus. In ihr können endlich Lesben Spitzenfunktionärinnen in der Nazi-Partei werden, während Björn Höcke 2018 in seinem Buch Massenmorde ankündigen kann und die Medien sofort mit »kritischen« Rezensionen eine Echokammer für diese Drohung bilden.
Davon abgesehen ist Härte eine notwendige Verhaltensweise in Gesellschaften, in denen kapitalistische Warenproduktion herrscht. Denn diese Produktionsweise lässt uns alle als Konkurrent*innen, also als Gegner*innen einander gegenübertreten. Das ist auch ein Grund, warum emanzipatorische Projekte zu Recht andere Lebensentwürfe versuchen – dezidiert antikapitalistische, das heißt möglichst gewaltfreie, also miteinander anstatt gegeneinander arbeitende Verkehrsformen entwickeln. Das sind Leute, die verstanden haben, dass Menschen sich grundsätzlich anders zueinander verhalten müssen, wenn sie überleben wollen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.