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Pirnaer Skulpturensommer: »Unser Blick hat sich verändert«
Am Wochenende startete der elfte Pirnaer Skulpturensommer. Juliane Jaschnow zeigt eine Arbeit zur deutsch-russischen Erinnerungskultur
Sie sind in diesem Jahr das erste Mal beim Pirnaer Skulpturensommer dabei. Bei der Arbeit, die Sie zeigen, handelt sich dabei um eine mehrteilige Installation, in deren Zentrum ein Nachbau des Reichtagsgebäudes bei Moskau steht. Waren Sie selbst dort?
Ich war 2019 dort und habe die Reichstagskopie im »Park Patriot« besucht. Das ist ein militärpatriotischer Erlebnispark, etwa eine Autostunde von Moskau entfernt, der vor allem Kinder, Jugendliche und Familien ansprechen soll. Für »Rekapitulieren«, meine Arbeit, die sich seitdem fortlaufend weiterentwickelt hat, habe ich vor Ort gefilmt. Es gibt dort noch viel mehr, zum Beispiel steht dort die neu gebaute Hauptkirche der Streitkräfte Russlands, es gibt ein Partisanendorf, Schießhallen, ein Gelände für Militärmessen. Es ist ein sehr großes Areal, das in den letzten Jahren immer weiter expandiert ist.
Juliane Jaschnow ist Künstlerin und Filmemacherin, lebt und arbeitet in Leipzig. Sie studierte Bildende Kunst im Fachbereich Expanded Cinema und Fotografie an der HGB Leipzig und ist Absolventin der PMMC Professional Media Master Class für künstlerischen Dokumentarfilm am werkleitz Zentrum für Medienkunst Halle (Saale). Sie ist Mitglied der Filmischen Initiative Leipzig FILZ.
Und warum gibt es dort eine Nachbildung des Reichstags?
Die ist als Hauptobjekt übriggeblieben von einem ziemlich großen Reenactment [möglichst authentische Reinszenierung eines historischen Ereignisses, Anm. d. Red.], das 2017 auf dem Gelände des Parks stattgefunden hat. In einer Stunde wurden da mit Statist*innen, Panzern und Kulissenbauten ganz komprimiert die letzten Tage der Schlacht um Berlin im Frühjahr 1945 nachgestellt. Das Kriegsende, vor allem die Erstürmung des Reichstags und das Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Dach des Gebäudes, spielt in der russischen Gedenkkultur um den Zweiten Weltkrieg ja eine zentrale Rolle. Finanziert wurde das Reenactment, wie auch der ganze Park übrigens vom russischen Verteidigungsministerium.
Was hat Sie an der Sache interessiert?
Ich habe schon einige Jahre lang verfolgt, was in Russland erinnerungspolitisch und -kulturell passiert. Das hat auch mit einem persönlichen Interesse zu tun, da ich aus einer deutsch-russischen Familie komme. Das Reenactment und die Errichtung eines Reichtagsnachbaus wurde 2017 in der Duma vom Verteidigungsminister Sergej Schoigu angekündigt mit dem Kommentar »... damit unsere Jungarmisten nicht irgendetwas erstürmen, sondern ein konkretes Objekt«. Als ich später herausgefunden habe, dass die Reichstagskopie nach dem Reenactment nicht demontiert wurde, sondern nun als Sehenswürdigkeit in einen Militärpark eingebettet ist, hat mich das interessiert. Ich habe angefangen, mich mit der Inszenierung von Geschichte, deutsch-russischer Erinnerungskultur und dem Reichstag an sich zu beschäftigen, auch mit seiner Bedeutung hier in Deutschland. Der Reichstag ist ja nicht nur für das russische, sondern auch für das deutsche kollektive Gedächtnis ein wichtiges Monument – und hat sich, zumindest hier, über die Jahrzehnte als Bedeutungsträger immer wieder gewandelt.
Inwiefern?
1933 wurde der Reichstag ja in Brand gesetzt. Es ist bis heute nicht geklärt, ob die Brandstiftung inszeniert wurde. Die Nationalsozialisten haben die Kommunisten verantwortlich gemacht und den Brand als Anlass genommen, die Grundrechte außer Kraft zu setzen. Das Ereignis steht damit symbolisch auch für den Anfang des Nazi-Terrors. Dann gibt es natürlich die Fotografie von den Sowjet-Soldaten, die die Flagge mit Hammer und Sichel auf dem Reichstagsdach hissen – ein auch für die Deutschen ikonisches Bild, das für das Kriegsende und die Befreiung von den Nazis steht. Im Übrigen wurde die Szene der Flaggenhissung für dieses Foto zwei Tage nach der eigentlichen Erstürmung noch einmal nachgestellt, im Auftrag Stalins. Während der deutschen Teilung verlief die Mauer direkt am Reichstag, nach der Wende ist das Parlament dort wieder eingezogen. Es ist also ein symbolisch sehr aufgeladenes Bauwerk und mitunter Projektionsfläche für verschiedene Ideologien. Wenn man beispielsweise heute nach dem Stichwort »Sturm auf den Reichstag« im Internet sucht, tauchen als erstes Bilder des versuchten Reichstagssturms sogenannter Reichsbürger*innen von 2020 während einer Coronademonstration auf. Vor 2020 kamen da ausschließlich Schwarz-Weiß-Aufnahmen von 1945.
Ist das nicht auch eine Reinszenierung?
Ja, das ist sehr interessant: Ein Bild aus unserem kollektiven Gedächtnis wird hier reaktiviert, es ist der Versuch der Aneignung eines historischen Ereignisses über dieselbe Bildsprache, um deren Wirkkraft für eigene Absichten zu nutzen und zu vereinnahmen. Mich interessiert, wie Bilder unsere Erinnerung prägen und überschreiben können und damit letztlich auch die Gegenwart beeinflussen. Und wie sie zu propagandistischen Zwecken instrumentalisiert werden können. Ein Element der Werkserie »Rekapitulieren« bezieht sich übrigens auf den versuchten Reichstagssturm 2020.
Sie haben ein paar Jahre vor der russischen Invasion in der Ukraine 2022 angefangen, zu diesen Themen zu arbeiten. Hat sich Ihr Verhältnis zu »Rekapitulieren« mit dem Ukraine-Krieg verändert?
Die Videoarbeit, die 2019 entstanden ist und das Kernstück der Arbeit bildet, hat sich selbst ja nicht verändert – sie ist jetzt eine Art Zeitkapsel, gehört einem vergangenen Zustand der Welt an. Ich merke, dass Leute, die sich das heute anschauen, nun andere Kommentare und Fragen haben als vor Februar 2022. Unser Blick hat sich verändert: Das Material wird anders angeschaut; es wird nach Anhaltspunkten gesucht für das, was passiert ist.
Haben Sie damals davon etwas geahnt?
Als ich damals das Filmmaterial gesichtet und montiert habe – eigenes Material, aber auch vieles aus dem Netz, hauptsächlich aus den Social-Media-Kanälen des russischen Verteidigungsministeriums – habe ich mich natürlich gefragt, worauf die Propaganda abzielt. Ob es um eine Festigung der Macht von Putin mithilfe kollektiver identitätsstiftender Erinnerung geht oder worauf die Menschen da vorbereitet und eingestimmt werden sollen. Dass die Ukraine dann in diesem Maßstab angegriffen wurde, habe ich aber – wie wohl die meisten – nicht kommen sehen. Ich arbeite weiter an dem Thema. Dieses Jahr ist ein neuer Teil von »Rekapitulieren« entstanden, wo auch ein Artikel des »Neuen Deutschland« von 1993 eine Rolle spielt. [s. Foto, Anm. d. Red.]
Sie beschäftigen sich künstlerisch mit sehr politischen Themen. Schreiben Sie Ihrer Kunst eine bestimmte Aufgabe zu?
Meine Arbeiten verstehe ich nicht als Aufgabe. Es wird gerade viel darüber diskutiert, wo die Grenzen zwischen Kunst und Aktivismus verlaufen. Grundsätzlich denke ich, dass Kunst erstmal das Potenzial hat, Dinge anders zu verhandeln als es im Alltag oder der Politik passiert – auch im Hinblick auf Uneindeutigkeiten und Komplexität.
Was meinen Sie damit?
Als Künstlerin kann ich zeigen, dass es Dinge gibt, die parallel existieren, die vielleicht manchmal nicht miteinander vereinbar sind. Es geht mir nicht darum eine komprimierte Botschaft zu vermitteln. Ich verstehe Kunst erst einmal als Werkzeug – um zu sezieren, zu sortieren und in diesem Prozess auch etwas zu verstehen. Mich interessiert die Mehrschichtigkeit eines Zustands. Auch Geschichte ist ja nicht eindimensional. Es gibt immer unterschiedliche Perspektiven, Überlagerungen, Reaktivierungen.
Der Pirnaer Skulpturensommer, dieses Jahr unter dem Motto »Haltung. Haltungen«, läuft bis zum 29. September. Unter Kuration von Christiane Stoebe sind Arbeiten deutscher und tschechischer Künstlerinnen und Künstler zu sehen. Klassischen bildhauerischen Skulpturen werden dabei auch multimediale Installationsarbeiten gegenübergestellt.
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