- Politik
- Landtagswahlen
»Freie Sachsen«: Eine Kleinstpartei als Brandbeschleuniger
Der Soziologe Johannes Kiess über die Freien Sachsen, ihr Verhältnis zur AfD und die Wahlen im Freistaat
In Sachsen zeichnet sich ein aggressiver Wahlkampf ab. Wahlplakate werden zerstört, Menschen, die sie anbringen, angegriffen. Der SPD-Europapolitiker Matthias Ecke wurde schwer verletzt. Was hat das mit dem Agieren der Freien Sachsen zu tun?
Die Freien Sachsen mobilisieren schon lange massiv gegen Amts- und Mandatsträger. Sie haben zum Beispiele Aufmärsche vor Wohnungen von Politikern und Politikerinnen organisiert. Auf ihren aktuellen Wahlplakaten ist davon die Rede, dass »Handschellen klicken« müssten. All das trägt zur Verrohung der Umgangsformen und zu Hass auf »etablierte« Politiker bei.
Die Freien Sachsen gibt es seit 2021. Mit der Forderung nach einem »Säxit« genannten Austritt des Freistaats aus der Bundesrepublik und dem Königswappen auf der Fahne wirkten sie anfangs skurril. Wie stellt sich die Partei heute dar?
Sie ist eine neonazistische Kleinstpartei, die mit dem Konzept einer Bewegungspartei erfolgreich ganz unterschiedliche schon bisher bestehende Strömungen von Neonazis integriert. Sie propagiert Widerstand gegen die liberale Demokratie, aber lässt bewusst offen, was stattdessen kommen soll. Es ist ein Modell, das auch anderswo in Deutschland und Europa Schule machen könnte.
Der Soziologe Johannes Kiess ist Vizedirektor des Else-Frenkel-Brunswick-Instituts (EFBI) für Demokratieforschung an der Uni Leipzig und hat kürzlich gemeinsam mit Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen das Buch »Widerstand über alles« vorgelegt, in dem die Erfolgsformel der rechtsextremen Freien Sachsen untersucht wird.
Die Partei tritt bei den Kommunalwahlen am 9. Juni an. In welchem Umfang und mit welchem Ziel?
Noch ist nicht ganz klar, wie viele Bewerber sie tatsächlich aufbieten. Sicher ist aber schon, dass es einen flächendeckenden Wahlantritt nicht geben wird, auch wenn die Freien Sachsen anderes suggerieren. Zum Zweck ihres Antritts bei demokratischen Wahlen, die sie ja eigentlich ablehnt, äußert sich die Partei sehr deutlich. Landeschef Martin Kohlmann erklärt, es gehe darum, in den Parlamenten für »Chaos« zu sorgen. Außerdem will man an Informationen gelangen, etwa dazu, wo eine Unterkunft für Geflüchtete geplant ist, gegen die man dann mobilisieren kann. Zudem sollen eigene Leute das kommunalpolitische Handwerk lernen, damit die Verwaltung auch nach einem »Umsturz« weiter funktioniert. Das muss man als klare Drohung gegenüber denen verstehen, die jetzt dort arbeiten.
Im Freistaat ist auch der Landesverband der AfD als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Wie ist das Verhältnis zwischen ihm und den ebenfalls rechtsextremen Freien Sachsen?
Durchaus ambivalent. Wenn es um Wahlen geht, kann es der AfD nicht recht sein, wenn es noch weiter rechts außen eine konkurrierende Partei gibt. Formal gibt es auch einen Unvereinbarkeitsbeschluss. Ich beobachte aber, dass beide voneinander profitieren und sich unterstützen. Die Freien Sachsen schüren die Dauererregung auf der Straße, die AfD trägt diese in die Parlamente. In ähnlicher Weise hat sie ja schon von Pegida profitiert.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Konkurrieren beide Parteien um das gleiche Wählermilieu?
Tendenziell schon. Bei den Landratswahlen 2022 konnte man beobachten, dass Bewerber der Freien Sachsen vor allem dort zweistellige Ergebnisse erzielten, wo die AfD nicht antrat. Bei der Wahl der Gemeinde- und Stadträte sowie Kreistage muss man abwarten, ob der AfD wie 2019 das Personal für einen flächendeckenden Wahlantritt fehlt. So etwas ermöglicht Achtungserfolge der Freien Sachsen, zeigt aber auch, dass beide um ähnliche Wählergruppen konkurrieren. Wobei man sagen muss: Sein Kreuz bei den Freien Sachsen zu machen, ist schon ein noch krasserer Schritt, als für die AfD zu stimmen, die ja vielen Sachsen inzwischen als etablierte Partei gilt.
Es gibt Orte in Sachsen, in denen AfD und Freie Sachsen mehr als die Hälfte der Bewerber für das Kommunalparlament stellen. Für wie realistisch halten Sie es, dass es mancherorts auch eine rechte Mehrheit nach der Wahl gibt?
Das ist nicht auszuschließen und würde mich nicht überraschen, vor allem wenn es als Folge der permanenten Einschüchterung von Kommunalpolitikern nicht mehr genügend Kandidierende von demokratischen Parteien oder Vereinigungen gibt. Sollte das in einzelnen Orten passieren, wäre es zwar nicht der Untergang Sachsens, aber ein großer symbolischer Erfolg für die extreme Rechte. Was das dann für den jeweiligen Ort bedeutet, bleibt abzuwarten. Es zeigt sich ja schon bei vielen AfD-Vertretern, dass sie Kommunalpolitik nicht sehr fachkundig betreiben und es ihnen darum oft auch gar nicht geht. Die Freien Sachsen haben, wie schon gesagt, an funktionierenden Kommunen gar kein echtes Interesse.
Am 1. September wird der Landtag gewählt. Könnte ein Antritt der Freien Sachsen dort die AfD entscheidende Prozentpunkte für den Wahlsieg kosten?
Sollten die Freien Sachsen tatsächlich antreten, wäre das nicht auszuschließen. Ich gehe aber nicht davon aus. Bisher haben sie sich den Schritt offengehalten und wollen einen Antritt vom Ergebnis der Kommunalwahl abhängig machen. Allerdings läuft die Frist zur Meldung schon ein paar Tage vor dem 9. Juni ab. Ich denke, dass man hier eher ein leeres Drohszenario aufbaut.
Die Drohung gilt der AfD?
Ja. Kohlmann sagt offen, dass die AfD kein Verbündeter mehr wäre, wenn sie nur an die Tröge des Parlamentarismus heranwolle – Ziel müsse es sein, die Tröge umzustoßen. An anderer Stelle heißt es, wenn die AfD mit der CDU koaliere, werde sie in den Freien Sachsen ihren »stärksten Widersacher« finden.
Zwingt die Existenz der Freien Sachsen die AfD zu inhaltlichen Zugeständnissen?
Es hilft ihr, ihren radikalen Kurs zu fahren. Die Freien Sachsen wirken wie ein Brandbeschleuniger, der für die AfD zwar nicht kontrollierbar ist, aber ihren Themen Nachdruck verleiht. Was das praktisch bedeutet, zeigt die enorme Aggressivität im gerade erst begonnenen Wahlkampf.
Was wäre nötig, um die Wirkung des Brandbeschleunigers einzudämmen?
Das Problem ist, dass man drei Jahre lang gegen die antidemokratischen Aufmärsche der Freien Sachsen kaum vorgegangen ist. Auflagen wurden von der Polizei nicht durchgesetzt, Bedrohungen gegenüber Journalisten oder Gegendemonstranten kaum geahndet. Das sorgt bei den Teilnehmern für das Gefühl: Wir können tun und lassen, was wir wollen. Dass man sich jetzt zu Angriffen auf Wahlkampfhelfer demokratischer Parteien ermutigt fühlt, ist der logische nächste Schritt. Da hat es zu lange an Repression gefehlt. Solange es aber keine klare Antwort des Rechtsstaats gibt, sehe ich nicht, wie man das wieder einhegen will. Mit Appellen richtet man gegen autoritäre Neonazis nichts aus.
Sind die Freien Sachsen ein Fall für ein Parteienverbot?
Ein Verbot ist immer die letzte Waffe und will gut überlegt sein. Für den jetzigen Wahlkampf und die Wahlen 2024 hätte das keine Folgen. Aber wenn man überlegt, was Gründe sein könnten, um eine Partei zu verbieten, dann erfüllen die Freien Sachsen diese auf jeden Fall.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.