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Nikto nje zabyt!
Gedanken zur Schändung eines Ehrenmals in Schöneiche
In meinem Dorf Schöneiche bei Berlin steht ein Gedenkstein für jene sowjetischen Soldaten, die bei den letzten Kämpfen im April 1945 umkamen oder später den Verwundungen im Mai erlagen. Es sind die Namen von 272 Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren. Es seien hier nur einige genannt: Unteroffizier Antonenko, geboren 1912, er starb am 28. April 1945, Gefreiter Drozdov, geboren 1905, er starb am 19. Mai 1945, Soldat Klotschkov, geboren 1911, er starb am 29. April 1945, Leutnant Makschanov, geboren 1903, er starb am 25. April 1945, die Gefreite Vorona, geboren 1925, sie starb am 21. April 1945.
Über siebzig Jahre lang waren ihre Namen auf dem Obelisken zu lesen und die Worte »Ewiger Ruhm«. Doch dieses Jahr, 79 Jahre nach Kriegsende, waren die Namen mit deutscher Gründlichkeit weiß übermalt worden. Kinder, Enkel oder Urenkel derer, die das deutsche Jahrhundertverbrechen des Zweiten Weltkrieges begangen haben, haben es gewagt, Hand an das Ehrenmal zu legen. Welche Schande über sie, über uns!
27 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion starben im Gefolge des Eroberungs- und Vernichtungskriegs Deutschlands. Fast sechs Millionen Bürgerinnen und Bürgern Polens erlitten das gleiche Schicksal. 2,6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden auf deutschen Befehl hin auf dem Gebiet der Sowjetunion ermordet, noch mehr waren es auf dem Gebiet von Polen. Wie heißt es auf dem Gedenkstein des Piskarowskoje Friedhofs in Leningrad: »Nicht alle ihre edlen Namen können wir hier nennen,/ So viele sind es unter dem ewigen Schutz von Granit./ Aber wisse, der du diese Steine betrachtest:/ Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.« Nikto nje zabyt i nitschto nje zabyto.
Auch durch den Einsatz von Jelena Dmitrieva, die seit 2013 in Berlin lebt, kennen wir heute die Namen von 7000 der 7200 hier in Treptow begrabenen sowjetischen Soldaten und Soldatinnen. Dafür sei Dank! Niemand sollte namenslos bleiben!
Ich habe die Friedhöfe in den russischen und ukrainischen Dörfern vor Augen: Der Väter und Söhne der Familien werden hier erinnert. Nur wenige kehrten nach 1945 zurück. Konstantin Simonov hatte gedichtet: »Жди меня, и я вернусь./Только очень жди.« Wart auf mich, ich kehr zurück./ Aber warte sehr. – Viele Mütter, viele Frauen, viele Töchter warteten vergeblich.
Wir haben die Pflicht, niemanden und nichts zu vergessen. Aber zur Schande unseres Landes, der Bundesrepublik, ist das Menschheitsverbrechen eines Vernichtungs- und Versklavungskriegs, der mit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann, aus der Erinnerung weitgehend getilgt. Der Artikel des Bundespräsidenten Franz Walter Steinmeier im April dieses Jahres in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« hat es vorgemacht. Die Gesamtschuld des Zweiten Weltkriegs wird nicht anerkannt. Der Holocaust war untrennbarer Teil dieses Verbrechens: Der Plan Barbarossa und die Kolonisierungspläne der Nationalsozialisten zielten auf die Vernichtung des Judentums wie des Kommunismus. Jude sein, Kommunist sein – beides war in den Augen der Faschisten gleichermaßen ein Todesurteil. Und es ging darum, das polnische Volk und die Völker der Sowjetunion zu dezimieren und die Überlebenden als Sklaven zu unterjochen.
Wir haben jenen zu danken, täglich zu danken haben, die das Vernichtungs- und Versklavungsverbrechen des deutschen Nationalsozialismus gestoppt haben. Es waren die Völker der Sowjetunion, es waren die Polen, die an der Seite der Alliierten in Ost und West gekämpft haben, die Bürgerinnen und Bürgern der USA, Großbritanniens, Kanadas und Australiens, und ihre Armeen, die Widerstandskämpfer Frankreichs, Jugoslawiens, Griechenlands, Italiens, der Slowakei und Tschechiens, die deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Aufrechten und die Gerechten vieler Völker.
Diese Aufrechten und Gerechten haben eine Botschaft hinterlassen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Aber wir leben im Krieg. Und der Faschismus als Idee, als Bewegung, als politische Kraft und Form der Zerstörung von Zivilität erhebt wieder das Haupt. Deshalb brauchen wir die Kraft, die jene hatten, die vor uns waren und dem Faschismus widerstanden haben.
Es muss einen Aufschrei geben gegen eine neue Blockkonfrontation, gegen neue Kriegsideologien, gegen Vertreibung und Rassismus. Wider die falsche Lehre: Willst du den Frieden, so bereite den Krieg vor. Wer diesen vorbereitet, wird ihn ermöglichen und führen. Verteidigungstüchtigkeit ja, Kriegstüchtigkeit nein! Vor allem aber: Ertüchtigung zu aktiver Friedenspolitik!
Unsere Herzen bluten: Auf dem Boden der Ukraine und Russlands wird Krieg geführt zwischen Brudervölkern. Täglich zerreißen Bomben und Granaten Hunderte Männer und Frauen, sinkt das Aufbauwerk von 75 Jahren in Schutt und Asche. Es gibt in diesem Falle keinen gerechten Krieg. Frankreich spricht davon, eigene Soldaten an die Front zu entsenden. Russland antwortet mit einer Übung mit taktischen Atomwaffen in der Nähe zum Kriegsgebiet. Das Weiter-So ist eine unvorstellbare Katastrophe. Der Weg zum Frieden führt nicht über das Schlachtfeld und die Kapitulation, sondern über einen unmittelbaren Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ohne jede Vorbedingungen außer der einen: Kein einziger Schuss, kein einziger Toter mehr!
Auch der Krieg in Gaza geht aus der Schuld hervorgeht, die Deutschland auf sich geladen hat. Unsere Solidarität muss beiden Völkern gelten, dem jüdischen wie dem palästinensischen. Deutschland muss alles tun, um eine Zweistaatenlösung zu unterstützen.
Wir verneigen vor jenen, die durch ihren Kampf den deutschen Faschismus besiegt haben und dafür ihr Leben gaben. Wir werden sie nicht vergessen!
Mit keiner weißen Farbe, mit keinem Meißel können und dürfen die Namen derer vergessen gemacht werden, die für die Freiheit der Völker, für die Befreiung vom Faschismus gestorben sind!
Nikto nje zabyt i nitschto nje zabyto!
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