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Eine Handvoll Böller

Ein Vorabdruck aus Olivier Davids Essayband »Von der namenlosen Menge«

Große Bergstraße in Hamburg-Altona: Der Smiley hat nichts zu lachen; das Graffiti (nicht ganz im Bild) hegt »Post-Democratic Desires«: Wünsche, wenn die Demokratie vorbei ist.
Große Bergstraße in Hamburg-Altona: Der Smiley hat nichts zu lachen; das Graffiti (nicht ganz im Bild) hegt »Post-Democratic Desires«: Wünsche, wenn die Demokratie vorbei ist.

Ein später Nachmittag am letzten Tag des alten Jahrtausends. Um dem Gefühl des Alleinseins zu entfliehen, schnüre ich meine Schuhe, ich rufe meiner Mutter ein paar Worte zu und verlasse die Wohnung. Meine Stimmung passt zu diesem nasskalten Dezembertag, sie passt zum taubengrauen Himmel, sie passt nicht zum Tag der Tage, für den ich zu wenig enge Freunde habe, zu pleite und zu hobbylos bin. Ich bin elf Jahre alt, ich bin draußen auf der Straße unterwegs, streife durch die Stadt, mit einer Handvoll Böller.

Die Dämmerung bricht langsam herein, als ich beschließe, mich auf den Rückweg zu machen. Vorbei an den Stufen, die an die Außenmauer des Karstadt-Gebäudes angrenzen, vorbei an der Post nahe der großen Bergstraße. Am Schaufenster des Klamottenladens Hundertmark bleibt mein Blick an der dunkelbraunen Lederjacke für 699 Mark kleben. Kurz hellt sich meine Stimmung auf, als ich mir vorstelle, diese schwere, edle Lederjacke eines Tages zu besitzen. Nach ein paar Sekunden reiße ich mich los. Es gibt die Welt hinter der Auslage, und es gibt meine Welt, und dazwischen gibt es die Sicherheitsscheibe, die unüberwindbar zwischen meinen Tagträumen und der Realität steht. Das hinter der Scheibe, das bin nicht ich, das werde ich nie sein.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Die Kälte zieht mich wie an einer Schnur zurück nach Hause. Allein Böller auf die Straße zu werfen, so wie ich es bis vor wenigen Minuten gemacht habe, erzeugt keine Freude in mir, es ist eher etwas, das ich pflichtbewusst erledige, weil alle Jungs in meinem Umfeld vernarrt darin sind, etwas in die Luft zu jagen. Die letzten zwei D-Böller stecke ich zurück in die Tasche. Am Ende der großen Bergstraße explodiert plötzlich etwas unmittelbar vor meinen Füßen. Die Detonation ist heftig, sie reißt mich aus meiner Lethargie. Ich sehe ein paar übermütige Jugendliche, die sich mit Böllern beschmeißen, und hoffe, dass sie nicht auf mich zielen. Der Schock, den die Explosion in mir auslöst, wird verstärkt durch die empfundene Isolation von der Welt, die mich schon umgeben hat, lange bevor ich das Haus verlassen habe. Eine Isolation, die genau genommen ein Teil von mir ist. Eine Isolation, die gleichzeitig auch ein Trugschluss ist, denn ich bin nicht allein, meine Mutter wartet zu Hause, auch ihr geht es nicht gut, auch sie ist allein. Genau genommen ist es kein isoliertes Alleinsein, wir sind jeder für sich nebeneinander allein. Es ist das Alleinsein des versprengten Rests einer Familie aus der unteren Klasse.

Vor einiger Zeit habe ich online einer Podiumsdiskussion über soziale Herkunft und Klassenwechsel zugesehen, und in den Wochen und Monaten danach ploppte der Titel der Veranstaltung immer wieder in meinem Inneren auf: »Die Klasse, die es nicht gibt«. Die Formulierung zeigte mir eine Realität auf, die sich meinem Bewusstsein bisher entzogen hatte, obgleich ich ihre Wahrheit körperlich spürte. Mir kommt kein Gefühl in den Sinn, das ehrlicher und ernüchternder zugleich ist als jenes, das beim Vorgang spürbar wird, sich der Realität zu stellen, in der es für die meisten so wenig zu gewinnen gibt. Dieselbe Wahrheit besagt, dass ich alleine von dieser Erde gehen werde. Eine Wahrheit, in der geschrieben steht, dass ich in Einsamkeit und Armut sterben muss, zu früh sterben muss, weil diese Phänomene einer Gesetzmäßigkeit folgen.

Der Junge mit den Böllern in der Hand verwandelte sich in einen spätpubertierenden Jugendlichen, aus der Jahrtausendwende wurde 2007. Hätte mich damals jemand gefragt, wer die Hintermänner von 9/11 seien, ich hätte, mit einem Lächeln auf den Lippen, das Überlegenheit ausstellen sollte, aber von Verbitterung geprägt war, gesagt, es sei ein Insidejob gewesen – was denn sonst? Das war keine rein private Meinung, es war so etwas wie die kollektive Wahrheit meines Milieus.

Es war ein gutes, ein überlegenes Gefühl, einer der Wissenden zu sein. Mitte 2008 begann ich zweiunddreißig Stunden die Woche in einem Supermarkt zu arbeiten. Irgendwann in dieser Zeit fing ich schon vor der Schicht zu kiffen an, ab dem Nachmittag oder Abend trank ich Bier, ein paar Mal die Woche dazu Schnaps. Die Arbeitskollegen und Freunde, mit denen ich mich umgab, waren wie ich, zumindest fühlte ich mich ihnen gleich. Sie zogen Speed vor der Frühschicht, malten in ihrer Freizeit Wände und Züge, dealten und kifften oder tranken zu viel. Niemand glaubte an das eigene Vorankommen. Keiner gab sich der Illusion hin, dass die Welt für einen von uns etwas anderes zu bieten hatte. Man kämpfte dafür, es im Rahmen seines Alltags etwas weniger schlecht zu haben. Mehr Freizeit, weniger Lohnarbeit: Das war die ganze Zukunftsvision. Das schöne Leben, das wir uns ausmalten, war von dem Wunsch nach »weniger« gekennzeichnet, weniger Probleme zu haben, anstatt nach Verbesserungen, von denen wir nicht zu träumen wagten. Vorankommen bedeutete aufzuhören, die Regeln der oberen Klassen zu befolgen, so sehr hatte sich die Hoffnungslosigkeit in vielen von uns breitgemacht.

Vor Kurzem las ich bei erneuter Lektüre von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« folgende Sätze, in denen ich mich wiederfinde. »Dass es anderswo anders zugeht, dass andere Leute andere Ziele und Möglichkeiten haben, weiß man sehr wohl, aber dieses Anderswo liegt in einem so unerreichbaren, separaten Universum, dass man sich weder ausgeschlossen noch benachteiligt fühlt, wenn einem der Zugang zu den Selbstverständlichkeiten der anderen verwehrt bleibt. So ist die Welt geordnet, Punkt. Warum, weiß man nicht. Dazu müsste man sich selbst von außen betrachten, bräuchte einen Überblick über das eigene Leben und das Leben der anderen.«

In verschiedenen Momenten meines Lebens habe ich mich als Teil von etwas gefühlt, das ich heute im Nachgang als Klasse oder Klassenfraktion bezeichne. Im Stadion, wenn ich mit einem Lied verschmolz und die Gedanken, die sonst unaufhörlich ratterten, endlich verstummten. Wenn ich mit Freunden auf dem Skateboard durch die Stadt fuhr und die Trennung zwischen mir und der Welt überwand. Wenn ich mit Nachbarn und Bekannten gegen einen Klamottenladen aus der rechtsextremen Szene demonstrierte, dessen Mitarbeiter und Kunden im Stadtteil Präsenz zeigten. Wenn ich sah, dass eine linke Partei irgendwo auf der Welt eine Wahl gewann. Ich denke: Mit dem Klassenbewusstsein ist es wie mit dem Glück; es schaut mal kurz vorbei, es streift den Geist, wärmt ihn, aber dieses Gefühl zu konservieren, wollte mir weder als Kind und Jugendlichem gelingen noch zu der Zeit, in der ich körperlicher Arbeit nachging. Das veränderte sich, sobald ich mit dem Schreiben begann. In »Denken in einer schlechten Welt« beschreibt der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie, wie die Produktion von Kunst, Literatur und Wissen mit einer Verantwortung zum Engagement einhergeht. Im Augenblick des Schreibens »haben wir uns folglich entschieden, uns zu engagieren. Wir sind in etwas engagiert. Und damit können wir die politische Dimension unseres Handelns nicht länger verdrängen und bestreiten.«

An dieses Engagement glaube ich. Mein Schreiben ist ein Versuch, diesem Anspruch an das eigene Engagiertsein gerecht zu werden. Durch mein Schreiben erweckte ich die sozialen Bedingungen, durch die ich meine wesentliche Prägung erfuhr, zum Leben. Oder besser: Ich gewann ein Verständnis davon, welche Machtdynamiken in mir wirkten. Die Not, mich selbst verstehen zu wollen, brachte die Suche nach der eigenen Position ins Rollen, sie bildete den Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit den Geschichten meiner Eltern. Ich wollte meine Geschichte aufschreiben und die Geschichten meiner Familie. Dabei ist es nicht geblieben.

Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus Olivier David: Von der namenlosen Menge. Über Klasse, Wut & Einsamkeit. Haymon, 176 S., geb., 22,90 €. Das Buch erscheint am 16. Mai. Bei der Berliner Konferenz »Marx Is Muss« hält er am Samstag, den 11. Mai, einen Vortrag über Klasse und psychische Gesundheit um 19.45 Uhr am Franz-Mehring-Platz 1.

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