Marx-is-Muss-Kongress: Mit Klassenpolitik gegen Klimakatastrophe

Der Marx-is-Muss-Kongress stand im Zeichen aktueller Arbeitskämpfe und ihrer Verbindung mit dem Thema Klimagerechtigkeit

Die Veranstalter*innen des Kongresses wollen den praktischen Gebrauchswert der Werke von Karl Marx und anderen linken Klassikern für gegenwärtige und künftige Klassenkämpfe herausarbeiten.
Die Veranstalter*innen des Kongresses wollen den praktischen Gebrauchswert der Werke von Karl Marx und anderen linken Klassikern für gegenwärtige und künftige Klassenkämpfe herausarbeiten.

Seit 15 Jahren zieht der »Marx is Muss Kongress« alljährlich Hunderte Menschen an, die sich gesellschaftspolitisch, philosophisch und in Sachen praktischer Organisation von gewerkschaftlichen wie zivilgesellschaftlichen Aktionen fortbilden – und Kontakte zu anderen Linken knüpfen wollen. Veranstaltet wird er vom Netzwerk Marx21, das im Zuge der Gründung der Linkspartei 2007 ins Leben gerufen wurde. Bis heute sieht es sich in einer »revolutionär-marxistischen Tradition, die sich dem Ziel der Selbstbefreiung der Arbeiter*innenklasse, dem Sozialismus von unten« verschreibt.

Zum aktuellen Kongress waren 750 überwiegend junge Leute ins Gebäude am Berliner Franz-Mehring-Platz gekommen. Schon die Auftaktveranstaltung stand im Zeichen der Verbindung von marxistischer Theorie und aktueller politischer Praxis. Ihr Titel »Revolution als Notbremse« erinnerte an Walter Benjamins komplexe Deutung der Geschichte. Dem von Karl Marx geprägten Bild von der Revolution als »Lokomotive der Geschichte«, die sich unaufhaltsam in Richtung Fortschritt bewegt, stellte Benjamin das von der Notbremse entgegen, die verhindert, dass ein Zug in Richtung Abgrund oder Katastrophe weiterrast.

Angesichts des weltweiten Aufkommens ultrarechter Bewegungen und der Zuspitzung der Klimakrise bekommt Benjamins Deutung ganz neue Aktualität. Doch welche Kräfte sollen die Notbremse ziehen und wo ist sie im Spätkapitalismus zu finden? Diese Fragen blieben auf dem Podium unbeantwortet. Dazu waren auch die drei Impulsreferate zu unterschiedlich. Der in der US-Linken aktive Sean Larson bestätigte zumindest die pessimistische Sicht auf die politische Weltlage. Ein Wahlsieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November sei äußerst wahrscheinlich, so Larsons Prognose. Das aber wäre seiner Ansicht nach eine eher graduelle Verschlechterung gegenüber dem Status quo mit dem demokratischen Präsidenten Joe Biden an der Spitze. Er setze entgegen seiner Versprechen im Wahlkampf »in weiten Teilen die Politik von Trump fort und trägt so mit zur Rechtsentwicklung in den USA bei«, sagte Larson. So habe die US-Grenzpolizei in seiner Amtszeit mehr Migrant*innen festgenommen als in der vorangegangenen von Trump.

Die dritte Referentin, die nur ihren Vornamen nannte, berichtete über ihre Erfahrungen als Organisatorin verschiedener gewerkschaftlicher Kämpfe. Bea, eine Besucherin, die das erste Mal am Kongress teilnahm, sagte zu deren Vortrag: »Ich bin froh, dass Katharina auf das Thema Streik und Arbeitskämpfe eingegangen ist. Dieser Aspekt hat mir im Vortrag von Sean Larson total gefehlt. Er hat kein Wort zu den aktuellen gewerkschaftlichen Kämpfen in den USA gesagt.«

Dieser Kritik schloss sich ein weiterer Diskutant an, der auf die vielen aktuellen Erfolge gewerkschaftlicher Kämpfe in den USA unter anderem in der Automobilindustrie verwies. Die wenigen Sätze, in denen Larson überhaupt die Gewerkschaften erwähnte, bezogen sich auf deren Positionierung zum Israel-Palästina-Konflikt.

Indes befassten sich zahlreiche Veranstaltungen auf dem Kongress mit gewerkschaftlicher Organisierung und Arbeitskampferfahrungen in Deutschland. Im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion am Samstag stand eine Bilanz der bisherigen Arbeit des Bündnisses »Wir fahren zusammen«, in dem Beschäftigte des Öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) und Klimaaktivist*innen sich gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV einsetzen. Sie sehen darin eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Verkehrswende weg vom klimaschädlichen Individualverkehr gelingen kann.

In der Debatte ging es um die praktischen Probleme und Fragestellungen in einem so heterogenen Bündnis. Dass nicht alle ÖPNV-Beschäftigten auf die Klimaaktivist*innen gut zu sprechen wären, schilderte Ronja, die in Berlin während des Streiks die Beschäftigten der BVG unterstützte. Ein Fahrer habe sich zunächst klar von den »Klimaklebern« abgegrenzt, sich dann aber auf ein Gespräch eingelassen. Am Ende habe er den Aufruf von »Wir fahren zusammen« unterschrieben. Auch in anderen Städten gab es Vorbehalte der Beschäftigten gegenüber den Klimaaktivist*innen. »Doch als sie sahen, dass wir immer wieder kommen und auch morgens in aller Frühe die Streikenden unterstützen, wuchs das Vertrauen«, berichtete eine Aktivistin aus Köln. »Wir sind im Laufe der Tarifauseinandersetzung zusammengewachsen«, brachte es eine Beschäftigte auf den Punkt.

»Doch was bleibt von diesen gemeinsam gemachten Erfahrungen, wenn der Arbeitskampf zu Ende ist? Und wie erreichen wir, dass die Streikenden nicht rechte Parteien wählen?« Diese Frage stellte Volkhard Mosler aus Frankfurt/Main, der auf Jahrzehnte Erfahrungen in sozialistischen Gruppen zurückblicken kann.

Dass gewerkschaftliches Engagement im Betrieb dazu beitragen kann, dass weniger rechte Parteien gewählt werden, hat kürzlich eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bestätigt. Auf der anderen Seite, so heißt es darin, begünstigten »mangelnde Mitsprache am Arbeitsplatz und das damit verbundene Gefühl, mit tiefgreifenden Veränderungen in Arbeitsleben und Gesellschaft ohne Möglichkeit zur Einflussnahme nicht Schritt halten zu können« eine Entscheidung der Betroffenen für eine rechten Partei. Bündnisse wie »Wir fahren zusammen«, aber auch Kooperationen mit Beschäftigen im Pflegebereich und in den Krankenhäusern können solchen destruktiven Ohnmachtsgefühlen entgegenwirken. Davon waren viele Aktivist*innen auf dem Kongress überzeugt.

Das thematische Angebot der Tagung ging indes weit über die Schwerpunkte zu verbindender Klassenpolitik und zum Nahost-Konflikt hinaus. So gab es Veranstaltungen zu linker Medienkritik, Feminismus und dem Paragrafen 218, der den Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert.

Zur sogenannten Identitätspolitik formulierte Gabriel Kritik aus »queer-marxistischer Perspektive«. Der volle Veranstaltungsraum zeigte, wie groß das Interesse daran war. Gabriel, promovierte*r Philosoph*in, meinte, in linken Kreisen sei nach dem Erscheinen von Sahra Wagenknechts Buch »Die Selbstgerechten« 2021 der »vermeintliche Konsens« entstanden, Identität und Klasse dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Doch dies müsse genau »ausbuchstabiert« werden, so Gabriel, der*die sich auch in der Partei Die Linke engagiert.

Aber wie sähe eine queere Identitätspolitik aus, die mit der sozialen Frage kompatibel ist? Eine Antwort blieb Gabriel schuldig. Das Referat habe eher linke Kritiken an Identitätspolitik zusammengefasst, so Gabriel. Zu den zitierten Kritiker*innen gehört die US-Politologin Wendy Brown. Sie sehe die zentrale Gefahr von Identitätspolitik darin, dass sich Minderheiten ausschließlich über ihre Opferrolle definieren. Ihre These: Das schränke das Potenzial von Identitätspolitik ein. Denn für strukturelle Veränderungen brauche es mehr als ein Gefühl von Ablehnung. Das sieht auch Gabriel so: »Ich glaube, dass es eine Vision jenseits der eigenen Viktimisierung bedarf.« Zwar seien etwa Schutzräume für Betroffene von Diskriminierung wichtig, doch es sei auch notwendig, sich mit »nicht queeren Genoss*innen« zu organisieren.

In eine andere Kerbe schlägt Nancy Frasers Kritik am »progressiven Neoliberalismus«. Die Philosophin werfe identitätspolitisch geprägten sozialen Bewegungen vor, eine Allianz mit kommerziellen Sektoren einzugehen. Als Beispiel nannte Gabriel das britische Unternehmen Stonewall, welches mit Diversity-Trainings Geld verdient – und den Namen des historisch bedeutsamen Aufstands der New Yorker LGBTIQ-Community im Juni 1969 okkupiert hat.

Gabriel kritisierte an Frasers Auffassung, dass die US-Amerikanerin undifferenziert von einer »Allianz« spricht. Es handle sich aber nicht um eine absichtliche Kooperation, sondern um eine ungewollte Vereinnahmung handele. Man sollte sich mithin von einem »Modus der Schuldzuweisung« lösen, der in der Debatte um Identitätspolitik häufig durchscheine – nicht nur bei Fraser.

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