- Politik
- Gentrifizierung in Leipzig
»Jetzt ist der Osten dran«
Weil die Gewerbemieten steigen, bangen soziale Projekte in der Leipziger Eisenbahnstraße um ihre Existenz
An diesem Tag steht das Deckenlicht auf dem Plan. Drei Männer stehen dafür im Kreis auf jeweils einer Leiter und balancieren ein selbstgebautes Konstrukt aus Holzleisten und Neonröhren in Richtung der unverputzten Betondecke. Die Lampe erhellt eine ehemalige Lkw-Garage, daraus soll eine Werkstatt entstehen. Enrico Garten (33) und Matthias Stefan (40) sind zwei der Männer auf den Leitern, sie gehören zu denen, die der alten Garage ein neues Leben einhauchen wollen. Die To-do-Liste ist noch lang, derzeit gibt es weder Heizung noch fließend Wasser.
Eigentlich hatten die beiden bereits eine voll eingerichtete Werkstatt, im Radsfatz auf der Eisenbahnstraße und halfen Menschen dabei, ihre Räder selbst zu reparieren. »Jeden Tag kamen ungefähr 15 bis 20 Leute«, erinnert sich Stefan. Doch der Vermieter kündigte, ein anderer Interessent würde für ihren Laden die dreifache Miete zahlen, hieß es als Begründung. Das war im März 2022. Ein halbes Jahr lang versuchte die Initiative, sich juristisch zu wehren, dann mussten sie raus aus der Eisenbahnstraße Nummer 113b.
Einfach sei es nicht gewesen, an neue Räumlichkeiten zu kommen, berichten beide. »Als nicht-kommerzielles Projekt etwas zu finden, das man sich noch leisten kann, ist nahezu unmöglich«, sagt Garten. Schließlich stießen sie auf die Ostwache, eine ehemalige Feuerwache im Stadtteil Anger-Crottendorf, rund zwei Kilometer von ihrem alten Laden entfernt. Das Grundstück gehört der Stadt Leipzig, darauf soll ein Nachbarschaftszentrum entstehen – das Radsfatz darf ein Teil davon werden. Ihre neuen Räume sind zwar weniger zentral, aber sie sind trotzdem froh, wieder öffnen zu können, meint Stefan.
Etwa zwei Kilometer nördlich der Ostwache liegt die ursprüngliche Heimat des Radsfatz, die Eisenbahnstraße. Vor rund zehn Jahren standen dort noch viele Gebäude leer – in einstigen Gründerzeitwohnungen entwickelte sich während dieser Zeit eine vielfältige subkulturelle Szene. Derzeit erlebt die Gegend eine regelrechte »Schließungswelle«, wie es der Leipziger Stadtentwicklungsforscher Marcus Hübscher beschreibt. Hübscher leitet aktuell ein Forschungsprojekt, das sich speziell den Aufwertungs- und Gentrifizierungsprozessen auf der Eisenbahnstraße widmet. Andere Viertel Leipzigs seien damit schon durch, sagt er. Jetzt sei der Osten dran.
»Die Eisenbahnstraße ist Teil der wenigen verbliebenen Stadtviertel, die noch bezahlbar sind, obwohl sie sehr innenstadtnah liegen«, erklärt Hübscher. Die Nachfrage ist entsprechend hoch und das auch weiterhin – Volkmarsdorf etwa ist seit Jahren der am stärksten wachsende Ortsteil Leipzigs. Laut Daten der Stadt stieg die Bevölkerung in den Stadtteilen, durch die die Eisenbahnstraße verläuft, seit Beginn der starken Wachstumsphase ab 2010 um 50 bis 80 Prozent. »Jetzt wird’s langsam eng«, so der Wissenschaftler.
Nicht allen gelingt dabei ein Happy End. Das Radsfatz hat geschafft, was für viele andere nicht kommerzielle Orte der Subkultur nicht klappt: Sie haben nach einer Kündigung eine neue Räumlichkeit gefunden, die bezahlbar ist.
Schutz gilt vor allem im Wohnbereich
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Einen Wandel hat auch das Kulturzentrum Con Han Hop erlebt. »Einige sind einfach so hier reingekommen, weil sie gesehen haben, da ist irgendwas los«, erinnert sich Hanna an die Anfänge des Con Han Hop vor etwa zehn Jahren. »Damals war das hier im Viertel noch sehr nachbarschaftlich, es gab nicht so viele Leute.« Aus dem ehemaligen Secondhand-Shop – einige der Leuchtbuchstaben über der Tür fielen über die Jahre herunter – entstand über die Zeit ein Kulturzentrum. Hanna wohnt in den Stockwerken über dem Con Han Hop, im Hausprojekt E97 – die Wohngemeinschaft verwaltet zugleich das »Hop«, so wird es meistens von den Bewohnenden genannt. Neben Kulturveranstaltungen und Bar-Abenden finden hier auch kostenlose Deutschkurse statt. Das Angebot ist beliebt in diesem migrantisch geprägten Teil Leipzigs. Viele dieser wichtigen niedrigschwelligen Ankunftsstrukturen in der Eisenbahnstraße sind jedoch nur möglich durch Ladenprojekte wie das »Hop«, die ihre Räume mietfrei zur Verfügung stellen.
Aber die Bewohnerinnen und Bewohner des Hausprojekts bangen um ihre Zukunft und damit auch um das Fortbestehen des Con Han Hop. Ein neuer Besitzer droht mit Entmietung, teilte das Wohnprojekt öffentlich mit. Sie gehen davon aus, dass das Haus aufgewertet und weiterverkauft werden soll.
Ein Versuch der Gruppe, ihren Wohnraum und das »Hop« mithilfe des Vorkaufsrechts der Stadt zu retten, scheiterte. Ein Hausbewohner, der sich als Ponti vorstellt, ist ernüchtert von dem fehlenden kommunalen Schutz für soziokulturelle Orte. »Die politischen Werkzeuge sind stumpf. Wenn die Stadt in so einem Fall wie unserem nicht weiterhelfen kann, wann dann?«
Seit 2020 gilt auf der Eisenbahnstraße zusätzlich ein »Milieuschutz«, der verhindern soll, dass die Mietpreise unangemessen steigen. Sollen Gebäude hier saniert werden, muss die Stadt zustimmen. Sind die steigenden Mieten durch die Aufwertung für die Bewohnerinnen und Bewohner eines Hauses nicht tragbar, kann die Stadt die Genehmigung verweigern. »Aber das betrifft nur den Wohnraum«, erklärt Gentrifizierungsexperte Hübscher. »Das ist auch verständlich, denn Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Erst danach geht es darum, wo ich einkaufen oder meine Zeit verbringen kann.« Die Städte, so vermutet der Wissenschaftler, machten sich deshalb auch weniger Gedanken, wie sie bei der Verdrängung von Gewerbe, also Geschäften oder Bars, eingreifen könnten.
Ursache liegt auf Bundesebene
»Das Grundproblem ist, dass die meisten dieser Projekte mit einem Gewerbemietvertrag ausgestattet sind«, bestätigt Grünen-Stadtrat Tobias Peter. »Freiraumprojekte«, so nennt der Politiker Initiativen wie das Radsfatz und das Con Han Hop. Auch diese zählen im Mietrecht als Gewerbe. »Das ist der freie Markt, da gibt es keinen Kündigungsschutz wie beim Wohnen.« In Paragraf 580a des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist die Kündigungsfrist für Gewerbemieten auf sechs Monate festgeschrieben, wenn keine bestimmte Mietdauer vertraglich vereinbart wurde. Sonderregelungen für Gemeinnützigkeit, nicht-kommerzielle Orte, oder alteingesessene Geschäfte sind nicht vorgesehen. Die Stadt habe schlicht keine Handhabe, um in diesem Bereich einzugreifen, so Peter. »Das Problem müsste republikweit so groß sein, dass die Bundesgesetzgebung geändert wird.« Dann erst wären Kommunen berechtigt, zu agieren. Bereits 2020 forderten Linke und Grüne die Regulierung von Gewerbemieten in Form einer Gewerbemietpreisbremse und eines besseren Kündigungsschutzes. Vor allem Orte, die einen wichtigen sozialen Nutzen erfüllen, sollten unter dem Status der Gemeinnützigkeit bevorzugt behandelt werden. Ihr Antrag im Bundestag wurde abgelehnt.
Auf einen erneuten Anlauf für ein solches Gesetz will der Leipziger Politiker aber nicht warten. »Bis dahin ist wahrscheinlich alles schon verdrängt.« Stattdessen schlägt er vor, dass Vereine und Initiativen in den leerstehenden Räumen städtischer Liegenschaften, wie Vorort-Rathäuser oder Kitas, unterkommen könnten. Dort sieht er großes Potenzial für öffentliche Begegnungsräume.
Einige Freiraumprojekte würden bei solchen Kooperationen allerdings die eine oder andere Unabhängigkeit einbüßen. Viele soziokulturellen Initiativen im Leipziger Osten sind aus der Gelegenheit heraus entstanden und stetig im Wandel, feste Strukturen und Verantwortlichkeiten gibt es meist bewusst wenige. Um auf das kommunale Gelände der Ostwache ziehen zu können, musste das Radsfatz einen Verein gründen, – »versicherungstechnische Gründe«, begründete der frisch gebackene Vereinsvorsitzende Garten. »Ein Verein zu sein, ist mit deutlich mehr Struktur verbunden, als wir das zuvor gewohnt waren.« Einige hätten sich damit schwergetan. Für andere Kollektive sei eine Vereinsgründung schlicht keine Option, etwa Projekte, die politisch aktiv sind. »Das kann man nicht auf Papier fassen.«
Mehr Autonomie erhofft sich die Hausgemeinschaft in der Eisenbahnstraße Nummer 97. »Wir haben es satt, von Vermieter*innen abhängig zu sein, die nur Profite im Blick haben«, schreiben sie in einer Petition, in der sie um Unterstützung für ihr Anliegen werben. Kurze Zeit hatten sie eine Perspektive: Die Wohnungsgenossenschaft Solidarisches Wohnen Leipzig (SoWo) sollte das gesamte Haus inklusive des »Hop« kaufen, die Bewohnenden hätten bleiben können und nicht mehr um die Zukunft bangen müssen. Einige Monate später steht jedoch fest: Der Eigentümer lässt sich nicht auf das Angebot mit der SoWo ein. Seit kurzem steht nun ein Gerüst im Hinterhof des Hauses, eine Ankündigung für baldige Sanierungsarbeiten.
Rechtsstreit als letzte Lösung
Dabei ist der Kauf durch die Genossenschaft ohnehin eine Nischenlösung für Läden oder Kulturzentren. Der SoWo geht es eigenen Angaben zufolge primär um den Erhalt von Wohnraum. »Wenn wir mal einen kulturellen Ort retten, dann ist das eigentlich eher ein glücklicher Zufall«, sagt Charlotte Spellenberg aus dem Vorstand der Genossenschaft. Dafür fehlen der Sowo auch die Möglichkeiten; denn lediglich zehn Prozent aller Mieteinnahmen dürften überhaupt aus einem Gewerbe stammen.
»Ich denke, es wird Schritt für Schritt weiteren Wandel geben. Die einen werden weichen müssen und andere hinzukommen«, prognostiziert Gentrifizierungsforscher Hübscher die Entwicklung der nächsten Jahre für den Leipziger Osten. »Jetzt wird sich zeigen, wer dem Druck standhalten kann, wer mehr Geld hat, um die Mieten zu bezahlen.«
Die Bewohnerinnen und Bewohner des Con Han Hopstellen sich derzeit auf einen Rechtsstreit gegen die Entmietung ein. »Wir sind ein Teil der Ladenprojektszene, die dieses Viertel hier so besonders machen«, sagt Hausbewohner Ponti. »Und wir wollen nicht zu den Letzten gehören, die hier verschwinden.«
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