Russische Kriegsdienstverweigerer abgeschoben

Land Niedersachsen bricht erstmals seit Jahrzehnten Kirchenasyl und fliegt Familie nach Spanien aus

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Polizei kam eine Stunde vor Mitternacht. Mehrere Beamte sowie Mitarbeiter der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen haben am Sonntagabend in Bienenbüttel bei Uelzen eine vierköpfige russische Familie gewaltsam aus den Räumen der dortigen Kirchengemeinde herausgeholt und noch in der Nacht nach Spanien abgeschoben. Das berichtete am Dienstagnachmittag der Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Sowohl der Vater als auch sein erwachsener Sohn hatten während einer Reise einen Einberufungsbefehl zur russischen Armee erhalten. Die Familie befand sich zu dem Zeitpunkt in Deutschland, wo sie im Landkreis Uelzen Verwandte besucht hatte. Sie stellte daraufhin einen Asylantrag, denn die beiden Männer wollen nicht am Krieg gegen die Ukraine teilnehmen. Dieser sei aber mit Hinweis auf das sogenannte Dublin-Verfahren abgelehnt worden, weil die Familie bereits ein spanisches Visum besaß. Damit müsse sie in Spanien einen Antrag stellen.

Daraufhin habe sie sich an den evangelischen Kirchenkreis gewandt. Die evangelische St.-Michaelis-Gemeinde von Bienenbüttel hatte den Mann, seine Ehefrau, den Sohn und die 16-jährige Tochter aufgenommen. Nach Angaben des Flüchtlingsrats ist es das erste Mal seit Jahrzehnten, dass in Niedersachsen Behördenvertreter gewaltsam ein Kirchenasyl beendeten.

Die Polizeibeamten hätten sich per Durchsuchungsbeschluss Zutritt zur Gemeindehauswohnung verschafft, in der die Familie untergebracht gewesen sei, berichtet Pastor Tobias Heyden von der St. Michaelis-Gemeinde. Die Festnahme der Familie an einem Sonntag und die Missachtung des Kirchenasyls »haben uns erschüttert und erschrecken uns zutiefst«, sagte Heyden dem NDR.

Nach Angaben des Flüchtlingsrats gab es in Niedersachsen zuletzt 1998 einen Fall von Räumung eines Kirchenasyls mit anschließender Abschiebung. Danach hätten die Innenminister der Länder betont, dass auf Zwangsmaßnahmen gegen Personen im Kirchenasyl künftig verzichtet werde. Im April dieses Jahres sei dennoch ein Kirchenasyl von den Behörden aufgelöst worden. Die Abschiebung sei aber gescheitert.

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Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) habe anschließend versichert, es habe sich um ein Versehen gehandelt, so der Flüchtlingsrat. Nach der jüngsten Aktion sei aber davon auszugehen, dass nun bewusst eine neue, restriktive Richtung eingeschlagen werde. Es habe »offenkundig eine rot-grüne Landesregierung« gebraucht, um das Tabu zu brechen, Kirchenasyle aufzulösen, erklärte der Flüchtlingsrat. »Zur Durchsetzung der verkündeten ›Abschiebeoffensive‹ werden die letzten Hemmungen abgelegt.« Auch in anderen Bundesländern hat es in den zurückliegenden Monaten wiederholt Kirchenasylräumungen gegeben.

Djenabou Diallo-Hartmann, Sprecherin für Migration und Geflüchtete der Grünen im niedersächsischen Landtag, bezeichnet den Vorgang als »ein fatales Signal«. Das Kirchenasyl habe als Akt der Humanität eine lange Tradition. Jahrzehntelang hätten die Landesregierungen den Bundesbehörden keine Amtshilfe geleistet, wenn es um Kirchenasyl gegangen sei. Weil die Mutter psychisch schwer erkrankt sei, »hätte man in diesem Härtefall erst recht das Kirchenasyl unangetastet lassen sollen«.

Die Landesaufnahmebehörde (LAB) argumentiert hingegen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe bei der Familie keinen Härtefall festgestellt. Deshalb habe man für das BAMF die Dublin-Überstellung mithilfe der Landespolizei vorgenommen, teilte LAB-Sprecherin Hannah Hintze mit. Die Landesregierung stehe zu einer 2015 getroffenen Vereinbarung und respektiere das Kirchenasyl auch weiterhin bis zum Abschluss der jeweiligen Härtefallprüfungen durch das BAMF. Nach dieser Vereinbarung hätte die Kirchengemeinde die Personen innerhalb von drei Tagen aus dem Kirchenasyl entlassen sollen, nachdem das BAMF einen Härtefall verneint habe. »Diese Vereinbarung hat die St. Michaelis-Gemeinde Bienenbüttel im vorliegenden Fall willentlich missachtet.«

Der evangelische Kirchenkreis Uelzen hatte eigenen Angaben zufolge nach sorgfältiger Prüfung das Kirchenasyl für sinnvoll erachtet. Die Ärzte der Mutter hätten von einer Abschiebung dringend abgeraten. Die Prognose zur Integration der Familie sei gut gewesen. Vater und Sohn hätten Arbeitsangebote vorweisen können. Die Tochter habe das Lessing-Gymnasium in Uelzen besucht.

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