Abseitig, gewöhnlich

Zum Tod der großen kanadischen Schriftstellerin Alice Munro

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie war Mutter von vier Töchtern, von denen eine kurz nach der Geburt starb. Zeit zum Schreiben hat Alice Munro ihren weiblichen Pflichten abtrotzen müssen. So entstanden statt umfangreicher Romane »nur« Kurzgeschichten, mit denen sie aber auf lange Sicht eine solche Berühmtheit erlangte, dass sie 2013 den Literaturnobelpreis bekam. Vorher, im gleichen Jahr, war der Mann gestorben, mit dem sie seit 1976 zusammengelebt hatte, nachdem die Ehe mit James Munro in die Brüche gegangen war.

Von Kindheit an war sie nicht vom Glück verwöhnt. Geboren 1931 auf einer Silberfuchsfarm im kleinen Ort Wingham in Ontario, war sie das älteste von drei Geschwisterkindern. Als sie zehn Jahre alt war, kam eine Belastung hinzu: ihre Mutter erkrankte an Parkinson. Auf dem langen Schulweg habe sie sich gern Geschichten ausgedacht, bekannte sie später. Das Studium musste sie aus Geldmangel abbrechen. Ihren ersten Erzählband veröffentlichte sie erst mit vierzig Jahren. Was alles Menschen widerfahren kann – vieles hat sie aus eigener Erfahrung gewusst. Und nichts davon, nicht einmal das Absonderlichste ist ihr fremd gewesen. Wie soll man verstehen, dass eine Frau nicht von dem Mann loskommt, der ihre Kinder tötete? Wie kann man eifersüchtig sein, wenn man den Betreffenden eigentlich gar nicht mag? Oder dass eine Studentin sich herbeilässt, völlig nackt mit einem alten Mann zu speisen – was findet sie dabei?

Munros Erzählungen leben oft von solchen Tabubrüchen, vom Bekenntnismut, der eine Aufforderung an uns enthält, die wir sie lesen: Nimm es als etwas Mögliches hin, mokier dich nicht. Was kann nicht alles geschehen, das uns auf den ersten Blick fremd sein mag. Die innere Welt – ein ganzes Universum. Seltsam Abseitiges und Gewöhnliches verhaken sich bei Alice Munro auf eine gleichsam selbstverständliche Weise so, dass man selber involviert wird. Wir sind von Spannung gepackt und kommen hernach von der Lektüre nicht los, weil wir in uns hineinhorchen müssen.

14 Bände mit mehr als 150 Short Stories hat Alice Munro hinterlassen. Fast alles davon wurde ins Deutsche übersetzt. Wie die Autorin subtilste Seelenregungen erkundet, wird ihr so schnell niemand nachmachen. Vornehmlich Frauen in kanadischen Kleinstädten standen bei ihr im Mittelpunkt. Sich in fremde weibliche Erlebniswelten hineinzuversetzen, mag für sie selbst beim Schreiben ein Reiz gewesen sein. Dabei mied sie alles Süßliche, Gefällige, Ausschweifende. Oft wurde sie mit Tschechow verglichen. Mitunter fast lakonisch schon, schildert sie mit großer Genauigkeit, was geschieht, und wir müssen uns einen Reim darauf machen. »Sie verfügt über eine solche Meisterschaft, dass ich ihr selbst dann noch glauben würde, wenn sie sich einfallen ließe, in der Ich-Form über ihr Leben nach dem Tode zu berichten«, bringt es die US-amerikanische Autorin Polly Shulman auf den Punkt. Allerdings hat die weltberühmte kanadische Schriftstellerin in ihren letzten Lebensjahren der Demenz nicht entgehen können und zog sich von der Öffentlichkeit zurück. Der Kurzgeschichtenband »Dear Life«, in Deutschland 2013 unter dem Titel »Liebes Leben« erschienen, war ihr letzter. Aber Aktualität zählt ja überhaupt nicht bei ihr. Was jetzt vielleicht von ihr nachaufgelegt wird – man kann nur darauf hoffen –, wird wirken wie gerade erst geschrieben. Und auch in hundert Jahren noch: Paradoxes im Leben wird es ewig geben.

Am Montag ist Alice Munro im Alter von 92 Jahren gestorben.

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