Die vergeschlechtlichte Vernunft

Das aktuelle Buch von Mario Wolf perspektiviert das Verhältnis von Staat und Patriarchat anhand von Kritischer Theorie und Psychoanalyse

  • Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Studie »Kritik der entsinnlichten Vernunft« des Soziologen Mario Wolf setzt an einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit an. Einerseits haben feministische und queere Bewegungen die rigide heterosexuelle Moral erschüttert, die mit einer männlichen Kontrolle weiblichen Begehrens einhergeht. Daraus resultiert, dass das konservative Geschlechterarrangement der Nachkriegszeit grundlegend infrage gestellt wurde. Andererseits bestehen die Grundstrukturen patriarchaler Herrschaft und die damit verbundene Gewalt gegenüber Frauen und Queers fort. Die Ideologinnen und Ideologen der auf das komplementär-bipolare Geschlechterverhältnis ausgerichteten Heterosexualität erleben derzeit gar eine politische Konjunktur. Wolf stellt vor diesem Hintergrund die gesellschaftstheoretische Frage, warum systemimmanente Fortschritte innerhalb der Beziehung der Geschlechter mit dem Überleben archaischer Momente im neuen Gewand und einer Mehrfachbelastung für Frauen einhergehen, gleichzeitig Lohn- und Reproduktionsarbeiterinnen sein zu müssen.

Verteidigung der Dialektik

Indem er »die Schnittmenge von kritischer Theorie und feministischer Kritik auf der Basis des dialektischen Naturbegriffs der kritischen Theorie neu« zu durchleuchten verspricht, bewegt sich Wolf mit seiner Arbeit in einem materialistisch-feministischen Forschungsfeld. Dabei beansprucht er mit Missverständnissen in der Rezeption der Kritischen Theorie ebenso aufzuräumen wie in der allgemeineren Diskussion über Sexualität, Weiblichkeit und Natur. Hierzu zählt er den Vorwurf, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer identifizierten Frauen in der Dialektik der Aufklärung mit Natur und mystifizierten sie damit. Daneben kritisiert Wolf poststrukturalistische Ansätze wie die Queer Theory der Philosophin Judith Butler: Sie habe mit der Unterscheidung zwischen Sex und Gender zwar dazu beigetragen, die Kategorie der Natur als gesellschaftlich präformiert zu entlarven. Doch verunklare sie deren Verhältnis wieder, indem sie die Dialektik von Kultur und Natur einseitig zugunsten der Kultur auflöse.

Wolf argumentiert dagegen für einen negativ-dialektischen Begriff von Natur. Demnach ist Natur keine rein diskursive Konstruktion wie bei Butler, sondern verweist auf etwas, allerdings unbestimmtes Vorsoziales. Unbestimmt, weil es keine positive Bestimmung dessen geben kann, was Natur »eigentlich« ist. So hätten zwar leibliche, also »mehr oder weniger natürliche Faktoren«, einen Einfluss auf unsere Subjektwerdung und das damit verknüpfte Geschlechterverhältnis. Wolf nennt exemplarisch den monatlichen Zyklus vieler Frauen und den Stimmbruch der meisten Männer, aber auch das »Sich-im-falschen-Körper-Fühlen« vieler trans Personen. Doch unser Blick auf dieses Vorsoziale ist grundlegend durch sinnliche Erfahrungen sowie durch gesellschaftlich vermittelte Begriffe und herrschende Moralvorstellungen verstellt.

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Was als Natur erscheint, ist durch die für den Kapitalismus spezifische Naturbeherrschung und damit einhergehende Form der instrumentellen und – wie Wolf in die Debatte einführt – entsinnlichten Vernunft präformiert. Was den Menschen als Natur gegenübertritt, ist, wie Wolf in Anlehnung an Karl Marx’ Theorie des Fetischismus und deren Rezeption in der kritischen Theorie betont, eine Rückspiegelung gesellschaftlicher und historisch gewordener Verhältnisse – und damit immer nur »zweite Natur«. Die Geschichte des Geschlechterverhältnisses beinhaltet in diesem Sinne »das Fortdauern eines als natürlich erscheinenden, gesellschaftlich formierten Herrschaftsverhältnisses«. Darum müsse man statt von Natur von einer Naturgeschichte der Geschlechtlichkeit sprechen.

Hier zeigt sich die Verankerung seiner Studie in aktuellen psychoanalytischen Forschungen wie diejenige Christine Kirchhoffs. Mit der zeitgenössischen psychoanalytischen Rezeption der kritischen Theorie teilt Wolf den Anspruch, eine Kritik an Verhältnissen zu formulieren, »in denen Vernunft und Sinnlichkeit auseinanderklaffen und zu kaum überbrückbaren Widersprüchen« führen. Wolf erläutert, dass die bürgerliche Gesellschaft eine spezifische Form der Vernunft hervorgebracht habe, die nicht nur im technisch-rationalen Sinne auf die Beherrschung innerer wie äußerer Natur gerichtet sei. Vielmehr handele es sich um eine Form der entsinnlichten Vernunft, die ihre Naturverfallenheit verdrängt, abspaltet und auf »die Weiblichkeit« projiziert. Damit ist diese Vernunft inhärent vergeschlechtlicht und schreibt die ideologische Identifikation von Weiblichkeit mit Natur – und deren Abwehr – strukturell in die bürgerliche Herrschaft ein. Darin liege, so Wolfs These, »die Möglichkeit für die Rückkehr der Barbarei inmitten dieser Kultur«. Diese trifft als patriarchale Gewalt wohlgemerkt Frauen und Queers in besonderer Weise.

Das »Männer-Racket«

Um seine These mit Blick auf die Persistenz patriarchaler Verhältnisse und die Konjunktur autoritärer Dynamiken in der Gegenwart zu entwickeln, greift Wolf auf den Racket-Begriff der Kritischen Theorie zurück. In Anlehnung an Horkheimer, aber vor allem an den Rechtstheoretiker und Politikwissenschaftler Franz L. Neumann konzipiert er das Racket, ein Begriff, der ursprünglich auf die patriarchalen Bandenstrukturen der organisierten Kriminalität in den 1920er- und 1930er-Jahren zurückgeht, im Kern als männerbündisch. Das »Männer-Racket« bestimmt Wolf als die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Form der Herrschaft. Dazu greift er auch auf die Kulturtheorie Freuds zurück, in der die Bruderhorde und der Vatermord als Bild für die Urgeschichte der Menschheit fungiert.

Hier ist indes einzuwenden, dass Wolf die Freud’sche Urgeschichte zwar als hypothetische Überlegung kenntlich macht, diese jedoch nicht konsequent als Konstellation im Sinne dialektischer Bilder ausdeutet. Dadurch bleibt vielfach unklar, wie sich die von Wolf vertretene »materialistische Geschichtsauffassung« zu den hypothetischen Überlegungen Freuds verhält: Können die spekulativen Momente in der Kulturtheorie Freuds für sich beanspruchen, historische Realitäten abzubilden, oder müssen sie in erster Linie als literarische Figuren gedeutet werden, die helfen, die bürgerliche Gesellschaft zu entschlüsseln? Dadurch, dass Wolf stilistisch zwischen historischer Großerzählung und philosophischer Spekulation wechselt, entsteht der Eindruck, hier würde ein Vogelflug über die Menschheitsgeschichte vollzogen, der die Widersprüchlichkeit des konkreten Gegenstandes scheut.

Das ungeklärte Verhältnis zwischen historischer und spekulativer Betrachtung zeigt sich auch mit Blick auf das Theorem vom »Niedergang des Individuums«, das Wolf übernimmt. Danach ist das einst zwar beschädigte, aber doch existente bürgerliche Subjekt im Spätkapitalismus auf das männliche Selbst zusammengeschrumpft. Das Ich sei zur psychischen Regression aufs »Narzissmusbündel« gezwungen, »während es politisch die männliche Herrschaft im Männerracket festigt und kulturell zur öden Langeweile des Schematismus der Kulturindustrie verurteilt wurde«.

Psychoanalytische Probleme

Dies ist eine anregende These, die Plausibilität für sich beanspruchen kann. Doch dass das bürgerliche Subjekt je unter solchen Bedingungen aufgewachsen wäre, dass man es als Individuum hätte bezeichnen können, ist höchst zweifelhaft. Wissenschaftlich jedenfalls lässt sich die an der Psychoanalyse Freuds geschulte Grundannahme der Kritischen Theorie, wonach die väterliche Autorität in der bürgerlichen Gesellschaft Individualität hervorgebracht hätte, kaum ernsthaft untersuchen. Dazu reicht weder das Material in der Geschichte der Psychoanalyse noch der empirischen Sozialforschung hinreichend weit zurück.

Darüber hinaus scheint auch theorieimmanent das psychoanalytische Konzept des Ödipuskomplexes bei Wolf allzu statisch angelegt. In Anlehnung an feministische Kritiken ließe sich annehmen, dass der Ödipuskomplex als dynamischer und fragiler Prozess der Individuierung eng mit gelingenden oder misslingenden Bindungserfahrungen und so mit jeweils konkreten familiären und geschlechtlichen Konstellationen verwoben ist, die konkret zu untersuchen wären.

Diese Einwände ändern freilich nichts am analytisch anspruchsvollen Niveau, auf dem Wolf den Wandel des Patriarchats von einer in erster Linie personellen Herrschaft zu einer zugleich abstrakten Form gesellschaftstheoretisch fasst. Er vermag es, die instrumentelle Vernunft als inhärent vergeschlechtlicht und entsinnlicht zu rekonstruieren, und macht so das Fortleben des Patriarchats sowie die aktuelle Konjunktur männerbündischer Herrschaft begreifbar – eine genuine Aufgabe der Kritischen Theorie, zu der die Studie von Wolf einen anregenden Beitrag leistet.

Mario Wolf: Kritik der entsinnlichten Vernunft. Zur Naturgeschichte von Kultur, Subjekt und Geschlecht. Campus 2024, 439 S., 45 €.

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