Georgien: Ende eines neoliberalen Traums

Die Menschen in Georgien hoffen auf einen EU-Beitritt – das ist auch eine Absage an die heimische Politik

  • Sopiko Japaridze, Revaz Karanadze, Almut Rochowanski
  • Lesedauer: 8 Min.

Das georgische Parlament hat diese Woche ein Gesetz beschlossen, das ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen transparent machen soll – trotz großer Straßenproteste und enormen Drucks der EU und USA. »Die Verabschiedung dieses Gesetzes wirkt sich negativ auf die Fortschritte Georgiens auf dem Weg in die EU aus«, drohte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Nun will Georgiens Opposition die gesellschaftliche Mobilisierung nutzen, um bei den Wahlen im Herbst zu reüssieren. Der Konflikt ist Teil einer tiefgreifenden Krise der georgischen Gesellschaft.

Ende der 1990er Jahre hatte der damalige Präsident Eduard Schewardnadse westlichen Entwicklungsorganisationen und Stiftungen freie Hand gelassen. Mit deren Geldern sprossen NGOs wie Pilze aus dem georgischen Boden. Nach der Rosen-Revolution 2003 wurde deren Anführer Micheil Saakaschwili zum Staatspräsidenten gewählt und brachte hoch-motivierte junge Leute aus diesen NGOs in die Regierung. Er öffnete das Land für westlich inspirierte und finanzierte Reformvorhaben in der Annahme, dass die materiellen und geopolitischen Gewinne dieser Reformen die Nachteile bei Weitem überwiegen würden. Die Rechnung ging auf, zumindest finanziell. Im folgenden Jahrzehnt erhielt Georgien eine der weltweit höchsten Raten an Entwicklungshilfe pro Kopf der Bevölkerung und bis heute steht es weit oben auf der Liste. Eine der Folgen war ein großer lokaler NGO-Sektor, denn internationale Entwicklungshilfe braucht vor Ort Personen, die mit diesem Geld/für dieses Geld Projekte abwickeln

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Saakaschwilis junge Mannschaft begann einen neoliberalen Umbau des Landes, der so fundamental ausfiel, dass Jahre später sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) Kritik anklingen ließ: IWF-Chefin Christine Lagarde lobte 2019 zwar die »Reformen und Offenheit« des Landes, merkte aber gleichzeitig an, dass diese »Offenheit die Anfälligkeit für Schocks« erhöht habe und zudem die »große wirtschaftliche Ungleichheit« eine Bedrohung darstelle. Die Bearbeitung der sozialen Probleme wurde nun zum einen zur Aufgabe der NGOs – auch weil der georgische Staat sich mit seinem »Freiheitsgesetz« dazu verpflichtet hat, seine Ausgaben auf maximal 30 Prozent der Wirtschaftsleistung zu begrenzen und sich deswegen aus der öffentlichen Daseinsvorsorge wie auch von Dienstleistungen weitgehend zurückgezogen hat.

Internationale Geber, Entwicklungshilfeagenturen und der nach neoliberalem Muster abgespeckte Staat spannten lokale NGOs für ihre Zwecke ein. Hier gilt: Wer mitspielt, wird belohnt; wer nicht mitspielen will oder kann, geht unter. Die NGOs sollen nun die enormen sozialen Probleme bearbeiten, doch dafür sind die Mittel der internationalen Geber völlig unzureichend und mit ungeeigneten Auflagen versehen. Die NGOs dürfen meist nur Nischenprobleme angehen, etwa von »Sexarbeiter*innen aus ethnischen Minderheiten in Hochalpinregionen«. Damit fallen viele Arme durch das Raster. Das ist für alle Beteiligten sehr frustrierend. Auch für die NGOs. Fragt man die Menschen in den Dörfern, worüber NGOs mit ihnen diskutieren wollen, dann nennen sie Themen wie Autismus, Feminismus oder die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Zu Hause mit ihren Lieben besprechen sie dann, dass sie weder Lebensmittel noch Benzin bezahlen können.

NGOs wurden lange von Gebern dazu angehalten, nur klassische Bürgerrechte zu thematisieren, aber nicht soziale Rechte. In den letzten Jahren haben jedoch einige internationale Akteure angefangen, die georgische Sparpolitik zu dokumentieren und zu kritisieren. Das ist ermutigend, allerdings scheint diese Kritik zu verpuffen. Sie führt nicht zu gezieltem Druck der Geber auf die georgische Regierung, wie etwa wenn es um die Interessen westlicher Unternehmen geht. Wenn im Rahmen der EU-Kandidatur der georgischen Regierung lange To-do-Listen von Reformen vorgelegt werden, findet sich dort wenig zu sozialen Rechten.

Von ausländischen Geldgebern werden die NGOs auch als Wächter der Regierung eingesetzt. So lässt beispielsweise die Weltbank NGOs überprüfen, ob die Regierung die erhaltenen Kredite auch so einsetzt, wie mit der Weltbank vereinbart. Von dieser Dreiecksbeziehung sind die Bürger – ihre Anliegen, Interessen, Meinungen – ausgeschlossen.

Diese Dynamik höhlt auf Dauer die Demokratie aus. Es wird zwar gewählt, auch mehr oder minder frei und fair. Aber die gewählten Volksvertreter betreiben Politik, die sich nicht mit den Bedürfnissen und Erwartungen der Bürger deckt. Meinungsumfragen belegen seit Jahren, dass die Mehrheit sich von keiner Partei vertreten fühlt.

Egal welche Partei an der Macht ist – sei es Saakaschwilis »Vereinigte Nationale Bewegung« von 2004 bis 2012 oder »Georgischer Traum«, gegründet von Bidsina Iwanischwili, der seine Milliarden als Oligarch im Russland der 1990er machte – ideologisch sind sie sich einig: Sie glauben fest an eine technokratische, neoliberale, entpolitisierte Verwaltung, die Programme mit Hilfe – häufig ausländischer – Experten auf Grundlage angeblich objektiver Analysen entwirft und umsetzt. Öffentliche Dienstleistungen werden gerne dem Markt überlassen.

Die regierende Partei »Georgischer Traum« hat seit 2012 neun nationale und Gemeindewahlen gewonnen – nicht weil sie inhaltlich so überzeugend ist, sondern weil die Bevölkerung sie als das geringere Übel ansieht. 2012 kam sie an die Macht, weil die Regierung der »Vereinigten Nationalen Bewegung« immer repressiver geworden war. Die Opfer von Saakaschwilis Amtszeit stellen den Kern der loyalen Wähler von »Georgischer Traum«. Sie forderten, dass die Verantwortlichen für Gewalt und Unrecht zur Verantwortung gezogen werden. Das aber wurde aber von »Georgischer Traum« nur zögernd angegangen.

Auch den Lebensstandard ihrer Wähler hat die Partei kaum verbessert. Zwar ist die georgische Wirtschaft in den letzten Jahren stark gewachsen, 2021 und 2022 jeweils um zehn Prozent. Doch von dem neuen Reichtum kommt unten nicht viel an. Die Inflation hat tiefe Löcher in die Haushaltseinkommen gerissen, Lebensmittel in den Supermärkten kosten oft mehr als in der EU – und das bei Durchschnittseinkommen von weniger als umgerechnet 200 Euro. Viele Menschen sind gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben, und viele verlassen das Land, obwohl Georgien seit seiner Unabhängigkeit schon ein Drittel seiner Bevölkerung verloren hat.

Die ältere Generation hält der Regierungspartei trotzdem noch die Stange, weil sie der Partei »Vereinigte Nationale Bewegung« misstraut. Die jüngere Generation hingegen erinnert sich nicht an die Gewalt unter Saakaschwili und geht – wenn auch nicht für, so doch mit der Opposition – auf die Straße.

Mit wenig bis keinen Chancen, vom Volk in die Regierung gewählt zu werden, haben sich die Vereinigte Nationale Bewegung und andere Oppositionsparteien in das Exil des NGO-Sektors zurückgezogen und sich dort ein Standbein aufgebaut. Hierin liegt der Anlass der aktuellen Krise: dass einige wenige, vom Ausland unterstützte NGOs offene Parteipolitik betreiben und seit Jahren den Umsturz der Regierung planen, worauf die Regierung mit einem Rundumschlag gegen alle NGOs reagiert. Diese Krise wurzelt in einer viel tieferen Krise der demokratischen Repräsentation und der Souveränität, an der alle bisherigen Regierungen Schuld tragen – und ihre ausländischen Geber auch.

Georgiens Streben nach EU-Mitgliedschaft ist der empfindlichste aller Nerven in der georgischen Politik und Kultur. EU-Mitgliedschaft ist ein Sehnsuchtsobjekt für Georgier, sie steht für Erlösung am Ende langes Leidens und großer Opfer: Mit Europa wird alles gut. Unterstützt wird dies durch einen georgischen Nationalmythos, nach dem die Georgier*innen immer schon echte Europäer*innen waren und daher ihren muslimischen, asiatischen und auch russischen Nachbar*innen kulturell überlegen.

Konkret kann die Hoffnung auf die EU allerdings für vieles stehen. Junge Frauen träumen davon, dass die alten patriarchalen Geschlechterrollen verschwinden und ihr Leben so frei und gleichberechtigt sein wird, wie sie es aus westlichen Netflix-Serien zu kennen glauben. Ihre männlichen Altersgenossen malen sich aus, wie sie als EU-Mitglied Teil einer geopolitischen Supermacht wären, die es Russland zeigen kann.

Mindestens genauso wichtig sind pragmatische Überlebensstrategien, vor allem die Frage der Arbeitsmigration. Derzeit haben Georgier nur Zugang zu Saisonarbeit in der EU oder zu halblegalen Arbeitsverhältnissen als Reinigungspersonal oder Altenpfleger, mit schlechter Bezahlung und ohne Arbeitsschutz. Von der EU-Mitgliedschaft erwarten sie sich, endlich gut bezahlte, reguläre Jobs zu finden und auch ihre Familien nachholen zu können.

Wenn jetzt die EU droht, das neue NGO-Gesetz könne Georgiens EU-Perspektive gefährden, dann zieht dies vielen Georgier*innen den Boden unter den Füßen weg. Das möchte die Opposition nutzen, sie hegt Pläne für die Wahl im Herbst. Die parteilose Präsidentin Salome Surabischwili will eine Pro-EU-Koalition aus allen Oppositionsparteien in die Wahlen führen, weil sie nur vereint »Georgischer Traum« schlagen können. Doch es gibt Hürden: So vereint scheint die Koalition nicht zu sein, zwei Oppositionsparteien streiten um die Führerschaft. Die begeisterten jungen Demonstrierenden wiederum wehren sich dagegen, von der Politik vereinnahmt zu werden. Und ein politisches Programm hat die Opposition noch nicht einmal erwähnt.

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