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- Wo können Linke noch leben?
Anderswo ist der Rechtsruck erträglicher
Yossi Bartal möchte für zukünftige Exilanten eine App entwickeln
Vor einiger Zeit telefonierte ich mit einem älteren jüdischen Herrn aus den USA – ein Politiker vom progressiven Flügel der Demokraten. Er machte sich große Sorgen um die bevorstehende Wahl: »Wenn Trump wieder gewinnt, dann sind wir in Amerika am Ende«, sagte er besorgt. Sein einziger Trost war, in den letzten Jahren österreichische Pässe für sich und seine ganze Familie organisiert zu haben. »Falls dieser Faschist wieder Präsident wird, könnten zumindest meine Kinder eine Zukunft in einem demokratischen Europa haben.«
Yossi Bartal ist seit 2006 ein begeisterter Wahl-Neuköllner. Aufgewachsen in West-Jerusalem lernte er früh, dass Selbsthass die edelste Form des Hasses ist. Mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber Staat und Gesetz schreibt er für nd.Digital jeden dritten Montag im Monat über Parallelgesellschaften, (Ersatz-) Nationalismus und den Kampf für eine bessere Welt.
Ich hatte nicht das Herz, ihm mitzuteilen, welche Partei bei den Umfragen in seiner alt-neuen Alpenheimat vorne liegt – doch seine Auswanderungspläne kamen mir allzu bekannt vor. Denn auch auf dieser Seite des Atlantiks machen sich viele Liberale wegen der sich abzeichnenden Machtübernahme rechter Parteien Sorgen um ihre eigene Zukunft und denken laut darüber nach, das Land zu verlassen.
Der Publizist Michel Friedman hat schon mehrmals erklärt, sollte die AfD an einer Regierung beteiligt werden, seien seine Koffer gepackt. »Dann gehe ich«, sagte er. Wohin, blieb erstmal unklar. Konkreter äußerte sich der ukrainischstämmige Schriftsteller Dmitrij Kapitelman, der sich angesichts des Wahlerfolgs Aiwangers in Bayern letzten September auf Twitter wünschte, seine Familie wäre damals lieber nach Israel als nach Deutschland ausgewandert.
Demgegenüber verkündeten zahlreiche Israelis infolge der antidemokratischen Justizreformen, sich anderswo eine Zukunft suchen zu wollen. In der Tageszeitung Haaretz wurde sogar eine wachsende Expat-Community in einem piemontesischen Alpental dokumentiert. Angesichts des nicht enden wollenden Kriegszustands seit dem 7. Oktober und des scheinbar endlosen Machterhalts der Rechtsreligiösen sind noch mehr politisch motivierte Auswanderer zu erwarten.
Wie wir sehen, ist der Rechtsruck überall. Selbst in Ländern mit einer linken Regierung können sich die Verhältnisse rasch ändern. Und so wird die geplante Flucht vor dem eigenen Faschismus öfter denn je in ein Land führen, in dem kaum bessere Gestalten an der Macht sind. Dieser fremde Autoritarismus scheint dennoch für manche viel erträglicher zu sein. Auf die Frage, ob sie als Netanjahu-Gegner kein Problem mit der rechten Meloni-Regierung haben, antwortete einer der nach Italien eingewanderten Israelis ganz ehrlich: »Das mag doof klingen, aber das ist nicht unseres. Was in Israel passiert, bringt mich um den Schlaf (...). In Italien ist die Verzweiflung bequemer.«
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Man könnte natürlich solche First-World-Exilanten lächerlich finden. Dennoch sollte man die potenzielle Gefahr eines nationalistischen Autoritarismus nicht unterschätzen, auch nicht für privilegierte Kulturschaffende. Denn auch ohne drohende Haft oder tatsächliche Gewalt kann das Gefühl, plötzlich fremd im eigenen Land zu sein, manchmal schlimmer sein als in der Fremde.
Dafür muss nicht einmal die AfD in die Regierung kommen – der Geist von Orbán und Netanjahu ist hierzulande bereits im staatlichen Handeln zu spüren, insbesondere im Umgang mit der Palästina-Solidarität - von Konto-Sperrungen und Auftrittsverboten bis hin zu Diffamierungskampagnen durch Regierungsstellen. Viele der Betroffenen sind erst vor wenigen Jahren mit der Vorstellung aus dem Ausland hierhergekommen, dass im Land eine freiheitliche demokratische Grundordnung herrsche. Jetzt jedoch müssen sie enttäuscht feststellen, dass dies für Palästinenser und ihre Unterstützer nicht gilt. Doch wohin sollen sie gehen?
Um diese schwierige Situation möglichst zu vereinfachen, wäre es vielleicht zeitgemäß, eine technologische Lösung in Betracht zu ziehen. Ich schlage deshalb vor, eine Austausch-App zu entwickeln – vielleicht unter dem Namen Faschismus-Swap.com, wo Menschen in vom Rechtsruck betroffenen Regionen ihre Wohnungen tauschen können. Zwischen Tel Aviv und Berlin, Neapel und Budapest oder Arizona und Buenos Aires. Für einige Grüne wäre vielleicht Indien das passende Ziel, wo die Nationalisten vegetarisch essen und Yoga praktizieren, anstatt Nackensteaks zu grillen und Schlagermusik zu hören. Wie Visa für diesen gegenseitigen Austausch zu erhalten wären, ist noch zu prüfen.
Für all jene, die weder über ausreichend Geld noch über die erforderlichen Dokumente verfügen, um das Land zu verlassen, wenn die Lage zu unangenehm wird, bleibt jedoch die innere Emigration als einzige Option. Der Sänger Daniel Kahn, der in den Bush-Jahren aus den USA nach Berlin zog, hat diesen Gedanken in seinem gleichnamigen Song treffend zum Ausdruck gebracht: »And what's the bother of finding a new nation? /A border isn't art, it's just a frame /Just make a secret inner emigration /The holy land and exile are the same.«
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