»Die Unterdrückung ist vielfältig«

Wendy Flores über die Menschenrechte unter der Regierung Ortega in Nicaragua und die Klage gegen Deutschland

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 4 Min.
Aktivist*innen des nicaraguanischen Menschenrechtszentrums Cenidh demonstrieren für die politischen Gefangengen in Nicaragua.
Aktivist*innen des nicaraguanischen Menschenrechtszentrums Cenidh demonstrieren für die politischen Gefangengen in Nicaragua.

Nicaraguas Klage gegen Deutschland wegen »Begünstigung eines Völkermordes« vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen in Den Haag hat gerade Schlagzeilen gemacht. Der Vorwurf, dass deutsche Rüstungsexporte nach Israel einen Völkermord schüren, wurde vom Gericht entkräftet. Was halten Sie von der Klage?

Als Menschenrechtsorganisation lehnen wir jedwede kriegerische Handlung ab und fordern diplomatische Lösungen aller Konflikte. Allerdings ist zynisch, dass ausgerechnet eine Regierung, die die eigene Bevölkerung angreift, ihr Grundrechte verweigert und Tausende inhaftiert hat, diese Klage gegen eine demokratisch legitimierte Regierung angestrengt hat. Die nicaraguanische Regierung ist seit den Protesten vom Mai 2018, als die Studenten gegen Sozialreformen auf die Straßen gingen, international als autoritäre Regierung bekannt: Sie hat den Protest der nicaraguanischen Jugend brutal niedergeschlagen. Es kam zum Schusswaffeneinsatz gegen die unbewaffnete Zivilgesellschaft, was durch unzählige Videos gut dokumentiert ist. Mehr als 350 Menschen starben bis Ende 2018, es wurde gefoltert, was auch von den Vereinten Nationen, der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) dokumentiert wurde, die daraufhin des Landes verwiesen wurde. Die Repression blieb derweil straflos.  

Interview
Wendy Flores ist Menschenrechtsanwältin, musste Nicaragua Ende 2...

Wendy Flores ist Anwältin von Nicaragua Nunca Más, einer Menschenrechtsorganisation, die im costaricanischen Exil 2019 gegründet wurde. Flores lebt in San José und koordiniert die Arbeit der Menschenrechtsorganisation. Mit ihr sprach für »nd« Knut Henkel.

Seit 2018 haben Hunderttausende das mittelamerikanische Land verlassen. Ist ein Ende des Exodus in Sicht?

Nein. Etwa 700 000 von 6,5 Millionen Nicaraguaner*innen haben das Land seit 2018 verlassen, einige auch nach Deutschland, viele wie ich nach Costa Rica oder in die USA. Die Regierung von Daniel Ortega und seiner Frau Rosario Murillo regiert mit drakonischen Mitteln, mehrere Säuberungswellen hat es gegeben, Hunderte von Nichtregierungsorganisationen wurden 2018 und 2019 verboten. In weiteren Kriminalisierungswellen wurden insgesamt rund 3600 Nichtregierungsorganisationen verboten, meist unter fadenscheinigen Gründen. Wo hat es weltweit etwas Vergleichbares gegeben?  

Wie kommen Sie als Menschenrechtsorganisationen an gesicherte Informationen?

Wir bekommen dank moderner Kommunikationstechnologie Nachrichten aus erster Hand aus Nicaragua. Von Menschen, die noch in Nicaragua sind, die dort mit hohen Risiken und in einem repressiven System leben. Etliche bekommen keine Arbeit oder keinen Reisepass, sodass sie nicht ausreisen können, es gibt viele Häuser, die von Sicherheitskräften überwacht werden – die Mechanismen der Unterdrückung sind vielfältig. Das Regime will jegliche Mobilisierung oder Organisation verhindern.

Das Paar Daniel Ortega und Rosario Murillo regiert Nicaragua autoritär – wie funktioniert das? Warum zeigen die internationalen Sanktionen keine oder zu wenig Wirkung?

Die Übernahme von staatlichen Institutionen erfolgte in Etappen, auch bereits zu dem Zeitpunkt, als Daniel Ortega noch ein demokratisch legitimiertes Mandat hatte. Auch damals gab es bereits Warnungen, aber die wurden immer wieder in den Wind geschlagen. Das ist seit 2018 zwar anders, aber es erklärt die Tatsache, dass das Paar Ortega/Murillo Nicaragua derart unter Kontrolle hat. Die Effekte der Sanktionen könnten eventuell größer sein, das hängt vor allem davon ab, inwieweit die Sanktionen implementiert werden – eben umfassend oder nur partiell. Da gibt es von Land zu Land sicherlich noch Luft nach oben, aber das kann ich nur schlecht beurteilen, das können Expert*innen aus den jeweiligen Ländern besser. Sicher ist das Potenzial der individuellen Sanktionen gegen den Clan Ortega/Murillo noch nicht ausgeschöpft, da gibt es weitere Möglichkeiten. Ein Problem ist aus unserer Perspektive, dass es nach wie vor etliche Länder gibt, die Nicaragua unterstützen und so de facto Menschenrechtsverletzungen tolerieren.

Sie haben bis Ende 2018 für die Menschenrechtsorganisation Cenidh gearbeitet, ihr Kollege Juan Carlos Arce, der heute zum Kollektiv von Nicaragua Nunca Más (Nie wieder) gehört, ebenfalls. Gibt es im Nicaragua von 2024 noch unabhängige Organisationen?

Nein, oder besser, eine: die katholische Kirche. Ich persönlich habe Nicaragua am 26. Dezember 2018 verlassen und lebe seit dem 27. Dezember 2018 in Costa Rica, wo ich Juan Carlos Arce und andere Aktivist*innen der nicaraguanischen Menschenrechtsbewegung traf. Wir haben neue Strukturen aufgebaut, informieren über die Zahl der politischen Gefangenen in Nicaragua. Derzeit sind es 138 Menschen, darunter 23 Frauen, die unter unmenschlichen Haftbedingungen leiden. Im vergangenen Jahr wurden etliche politische Gefangene freigelassen, aber zur Ausreise in die USA gezwungen und ihnen wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt. Das ist auch nicaraguanischen Aktivist*innen passiert, die im Exil leben – sie wurden zwangsausgebürgert. Der Arm des Regimes reicht weit!

Wie hält sich das Regime ökonomisch über Wasser – wie generiert es Einnahmen?

Devisen kommen über die Rücküberweisungen aus dem Exil an die Familien ins Land, die vom Regime abschöpft werden. Eine andere Einnahmequelle ist der Export von Gold, das oft unter illegalen Bedingungen gefördert wird, von Kaffee, aber es fließen auch immer noch Kredite ins Land, die unter fragwürdigen Bedingungen gewährt werden. Dieses Geld hält ein repressives System über Wasser.

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