Rassismus auf Sylt: Ein Prosit auf den Herrenmenschennachwuchs

Dass Rassismus nur bei »den Abgehängten« unserer Gesellschaft verfängt, ist eine Lüge, erklärt unsere Kolumnistin Sheila Mysorekar

Mein großes Dankeschön geht an die jungen Leute aus gutem Hause, die in ihrem Urlaub auf Sylt Nazi-Parolen gegrölt und das Beweisvideo auch noch gepostet haben. Blond, offensichtlich wohlhabend, in akkurat gebügelten Hemden und um die Schulter gelegten Kaschmirpullovern, mit Weinglas in der Hand und einem fröhlich-rassistischen Lied auf den Lippen, haben sie ein für alle Mal mit der Lebenslüge aufgeräumt, dass es Rechtsextremismus nur unter den »Abgehängten« gebe.

Seit Jahrzehnten machen sich Politik, Gesellschaft und Medien gegenseitig vor, es seien die Armen und Benachteiligten, vor allem im Osten, denen aufgrund ihrer Enttäuschung von der Politik leider nichts anderes übrigbliebe, als rechts zu wählen. Zahlreiche Studien haben dies widerlegt – die Mehrheit der AfD-Wählenden haben Arbeit und sind nicht arm oder abgehängt. Solche Tatsachen werden aber gerne ignoriert.

Ebenso gibt es viele arme Leute, zum Beispiel im Ruhrgebiet, die weiterhin stabile Demokrat*innen sind; Arbeitslosigkeit macht nämlich niemanden automatisch zum Rassisten. Wenn man im Ruhrgebiet Orte wie Oberhausen oder Hagen anschaut, mit Schlaglöchern in den Straßen, leeren Läden und zugenagelten Schaufenstern, mit ihrer extrem hohen Armutsrate, und diese dann vergleicht mit Orten wie Erfurt oder Weimar, liebevoll restauriert und tipptopp instandgehalten dank dem Solidaritätszuschlag, den wir alle zahlen, mit schönen Einfamilienhäusern und neuen Autos davor – dann fragt man sich doch, aus welchen Gründen genau die AfD in Thüringen so stark ist. 

Umso dankbarer bin ich diesen jungen Herrenmenschenanwärtern für ihre sektlaunige Ehrlichkeit. Sie haben aller Welt unmissverständlich gezeigt, dass Rechtsextremismus sich quer durch die gesamte Gesellschaft zieht, bis ganz nach oben. Das Narrativ, dass nur die »Abgehängten« unausweichlich rechtsradikal werden, trifft einfach nicht zu.

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Die Empörungswelle, die momentan durch die Medien schwappt, begründet sich im Überraschungsmoment: Wie, diese schönen jungen Reichen grölen so hässliche Sachen? Als wären sie, nun ja, rechtsextreme Prolls? Aber ihr habt nicht richtig hingehört: Wenn solche Leute mit kultivierter Stimme und leicht gerümpfter Nase sagen: »Muslime sind kulturell inkompatibel mit unserem modernen Deutschland«, dann ist das das Gleiche wie »Ausländer raus«, nur eleganter verpackt. Das heißt: Die Empörung über die reichen Kids im Sylt-Video bezieht sich weniger auf den Inhalt, eher auf den Stilbruch.

Interessant ist auch der doppelte Standard, mit dem die Neonazi-Sängerknaben beurteilt werden, so in dem Sinne: Ein bisschen viel Champagner, dann kann das doch jedem mal passieren … Hat CDU-Chef Friedrich Merz schon dazu aufgerufen, diese Leute zu Integrationskursen zu verdonnern, damit sie lernen, was im Grundgesetz steht?

Die »Süddeutsche Zeitung« kommentiert dazu sarkastisch: »Spätestens jetzt möchte man doch die Vornamen dieser jungen Leute wissen – oder nicht, liebe CDU? Wie damals nach den Silvesterkrawallen von Neukölln, als Mohameds beteiligt waren. Ein Paul dabei? Ein Ferdinand? Eine Laura? Welche Parallelgesellschaft wächst da mitten unter uns heran? Welche ethnisch-kulturelle Prägung steht dahinter? Zeit für eine Stammbaumanalyse, nicht wahr, liebe Polizei?«

Diese Mitschuld bei der Normalisierung von Rassismus griffen auch die »Tagesthemen« auf: Wenn Politiker »immer wieder von Kopftuchmädchen, Paschas und Messermännern reden, wenn hinter geschlossenen Türen Deportationsfantasien verhandelt werden, dann verschiebt sich eben die Debatte und das Sagbare«, kommentierte Murad Bayraktar vom WDR.

Dass die jungen Rolex-Rassisten so unachtsam waren, ihre Gesinnung offen zu zeigen, stört die Strategie der AfD, sich als bürgerlich und damit als wählbar zu verkaufen. Die Wahrheit ist jedoch: Auch die oberen Schichten der Gesellschaft sind anfällig für Rechtsextremismus. Das Großkapital hat sich immer im entscheidenden Moment auf die Seite der Faschisten geschlagen und sie damit ins Amt gebracht. Abhitlern auf Sylt ist halt die Freizeitvariante der Oberschicht.

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