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Moral am Kipppunkt

Zum Hochmut westlicher Führungskreise gehört der Anspruch, seine Demokratien seien bereits der wahre Hort moralischer Werte

  • Dieter Klein
  • Lesedauer: 7 Min.
Wies die Hybris des Westens zurück: Antje Vollmer (1943-2023), Theologin, Pazifistin, Grünen-Politikerin
Wies die Hybris des Westens zurück: Antje Vollmer (1943-2023), Theologin, Pazifistin, Grünen-Politikerin

»Welche Ideale prägen uns? Welche Irrtümer und Verbrechen?« Mit diesen Fragen in ihrem »Vermächtnis einer Pazifistin« gab uns die 2023 verstorbene Grünen-Politikerin Antje Vollmer vor, die moralischen Grundlagen unseres Handelns in Zeiten innergesellschaftlicher Turbulenzen und großer Gefahren für die Menschheit zu überprüfen.

Eine Große Transformation, die die Menschheit vor dem ökologischen Suizid rettet, die eine radikale Abkehr von Kriegen vollzieht, den Hunger in der Welt überwindet und die Erosion der Demokratie beendet, bedarf einer erneuerten Moral. Menschlichkeit allen Handelns sollte ihr Kern und Maßstab sein.

Zur Hybris des Westens, die Antje Vollmer vehement zurückwies, gehört der Anspruch westlicher Führungskreise, ihre Demokratien wären bereits der wahre Hort moralischer Werte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird genutzt, um den Widerstand der Ukrainer zum Kampf für Freiheit und Demokratie gegen Knechtschaft und Autokratie zu stilisieren. Auf solche Weise wird verdeckt, dass die Wortführer im herrschenden Diskurs längst dabei sind, den ursprünglichen humanistischen Sinngehalt der Moral zu entsorgen. Der Umgang mit zwei Gefahren des Jahrhunderts, mit dem die Umwelt zerstörenden Wachstum und mit dem Krieg, verdeutlichen dies.

»Um die USA zentriert«

Den meisten Menschen gilt Wachstum als entscheidende Bedingung für Wohlstand – selbst um den Preis von Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Intoleranz, aber auch von eigenen Existenzängsten. Lange Zeit führte das Wachstum in der Tat für große Teile der Bevölkerung in den reichen Ländern zu mehr Wohlstand und ist heute in den ärmeren Ländern unverzichtbar für die Überwindung der Armut. Aber längst ist es in die Vernichtung der Naturgrundlagen des Lebens umgeschlagen. Zum normalen Habitus ist geworden, sich »selbst zu vermarkten«, sich »gut zu verkaufen«, um sich in der Konkurrenz zu behaupten. Als Erfordernis jenes Wachstums, das zu Expansion auch in Gestalt von Kriegen tendiert und die Natur zerstört. Der Kapitalismus hat den Markt als Bezugssystem in den Individuen selbst verankert – unter Verkehrung mitmenschlicher Moral in das Gegenteil. Michel Foucault bezeichnete die Verbindung herrschaftlichen Regierens von oben mit der Selbstregulierung der Individuen nach verinnerlichten Normen als Gouvernementalität.

Eine ähnlich entleerte Moral wie in innergesellschaftlichen Zusammenhängen liegt dem herrschenden außen- und sicherheitspolitischen Diskurs zu Grunde. Die westlichen Machteliten streben mit ihrer »wertegeleiteten Außen- und Sicherheitspolitik« eine »regelbasierte Weltordnung« an. Putin beruft sich ebenfalls auf Werte, auf das Konzept der »Heiligen Rus«. Die »Russki Mir« müsse ihre kulturellen Wurzeln und Werte gegen den dekadenten Westen bewahren. Von allen Seiten wird die Moral zur Rechtfertigung des eigenen Handelns angerufen.

Der Kongress der Vereinigten Staaten leistete sich allerdings eine seltene Klarstellung. Er charakterisierte 2021 die »regelbasierte Weltordnung« als eine »um die USA zentrierte Welt, deren Alliierte sowie Partner, um deren gemeinsame Werte und Interessen durchzusetzen, freie, offene, demokratische, inklusive, regelbasierte, stabile sowie vielfältige Regionen zu erhalten und zu fördern«. Werden die schmückenden Beiworte beiseite gelassen, so bleibt: »um die USA zentriert«, »um deren Interessen durchzusetzen«. Das ist der wahre Inhalt der Moral, die diese Ordnung für sich in Anspruch nimmt. Selbst Kriege kommen im moralischen Gewand der »Schutzverantwortung« und notfalls als »humanitäre Interventionen« daher.

Sorgsam zu unterscheiden ist zwischen den unschätzbaren Zivilisationsgewinnen der Demokratie in modernen Gesellschaften – Meinungs- und Organisationsfreiheit, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiräume und Vielfalt der Lebensformen – und der Nutzung der Demokratie als Herrschaftsform der Machteliten. Natürlich ist jede Form und Errungenschaft realer Demokratie gegen Konkurrenzinteressen großer Konzerne, gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, Rassismus und Antisemitismus zu verteidigen. Natürlich schließt das die Verteidigung gegen Angriffe äußerer Mächte wie im Fall der Ukraine ein.

Aber die gegenwärtige geistig-politische Atmosphäre ist mit Feindbildern, Hass, Ausgrenzungen, Verweigerung von differenzierendem Denken, Verdrängung rationaler Argumente, Polarisierung, Verdächtigung von Versöhnungsbereitschaft als Verrat am Eigenen und Verschwörungstheorien aufgeheizt. Darunter erodiert die Demokratie. Ein Nährboden dafür sind die verbreitete Verunsicherung im Gefolge der Vielzahl von Krisen und die Komplexität nur schwer durchschaubarer Zusammenhänge. Aber in diesem antihumanen Wandel steckt mehr, auch eine Strategie der Herrschenden nämlich. Das ist die »Kognitive Kriegsführung«, die eine entleerte und verkehrte Moral in das Instrumentarium der »Kriegsertüchtigung« integriert. Just in einer historischen Situation, deren Bewältigung dringlicher als seit Jahrzehnten humanitärer Maße des Handelns bedarf, ruft die Nato die Einverleibung der Moral in die Kriegsführung aus.

Am 21. Juni 2021 wurde auf einem Nato-Symposium zur Weiterführung des Cognitive Warfare die »Human Domaine«, die menschliche Sphäre, als qualitativ neuer sechster Kriegsschauplatz neben dem Krieg am Boden, zu Wasser und in der Luft, im Weltraum und im Cyberspace definiert. Dort wird Krieg um das Bewusstsein, das Unterbewusstsein, die Psyche und die gesamte Gefühlswelt von Individuen und Massen geführt. Dort geht es um die Haltung des ganzen Menschen, um seine Lenkung im Interesse der jeweiligen Kriegspartei, um das Weltbild der einzelnen und ganzer Gesellschaften. Für diese psychologische Kriegsführung werden alle Mittel der Informations- und Kommunikationstechnik, des Internet, Künstlicher Intelligenz und die Datenmonopole und Lenkungspotenziale der IT-Konzerne mobilisiert.

Kriege, Umweltkrisen, Hunger – die Welt am Abgrund

Umso größeres Gewicht für die großen und kleinen Entscheidungen unserer Zeit gewinnt als Gegenpol, alle Elemente humanistischer Moral in den öffentlichen geistigen Auseinandersetzungen zu stärken und praktischen Entscheidungen demokratischer Akteure erkennbar zugrunde zu legen: »dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen« sei (Karl Marx), dass die Menschenwürde oberstes Moralprinzip sei (Immanuel Kant), Respekt vor dem Leben ein Grundwert ebenso wie der Erhalt der Natur, freie Persönlichkeitsentfaltung jeder und jedes einzelnen, Solidarität, Anerkennung, Empathie, Toleranz, Kompromissbereitschaft, Achtung des rationalen Arguments, Bereitschaft zu Selbstkorrektur.

Während der grundgefährliche Missbrauch der Moral für die psychologische Kriegsführung desorientierend in der Gesellschaft wirkt, wird in den Chefetagen des Big Business, von den Parteien des bürgerlichen Lagers, in der Mehrheit der Medien bis zu linksliberalen Intellektuellen der Eindruck genährt, dass eine neue sozial-ökologische und friedensoffene Vernunft bereits dabei sei, das Handeln der ökonomischen und politischen Elite im Westen zu bestimmen. Die Machteliten agieren doppelgleisig. Ob im Vormarsch von E-Mobilen, in der »Nationalen Wasserstoffstrategie« oder in Gestalt der »Industriepolitik 2030« – allerorten setze sich Vernunft durch, wenn auch begleitet von Parteiengezänk. Eine »moralische Revolution« als Kern einer Großen Transformation, getragen von den ökonomisch Mächtigen und den Spitzen der politischen Klasse, von Managerinnen und Managern, sei schon so weit fortgeschritten, dass größere Brüche in den Grundstrukturen der Gesellschaft nicht mehr erforderlich seien. Daher ist zum Beispiel selbst bei einem so progressiven Vertreter sozial-ökologischen Wandels wie dem langjährigen Präsidenten des Wuppertal Instituts, Uwe Schneidewind, zu lesen: »Der Weg ist evolutionär und nicht revolutionär.«

Doch der Krieg in der Ukraine, das Gemetzel zwischen israelischer Armee und Hamas und andere Kriege, anhaltende Umweltkrisen, der Hunger in der Welt und die Ausbreitung antihumaner Ideologien sind Signale dafür, dass wir uns an einem Kipppunkt zwischen Aufstieg oder Abstieg menschlicher Zivilisation befinden. Zurückliegende und in der Zukunft drohende Katastrophen bergen den Imperativ, eine der Menschlichkeit verpflichtete Moral künftig erst durchsetzen zu müssen.

Die Tiefe der für das Überleben notwendigen gesellschaftlichen Brüche erfordert gewiss einen dem bonum humanum verpflichteten Wertewandel in der kulturell-geistigen Sphäre der Gesellschaft. Dieser Wertewandel betrifft das rationale Denken, aber ebenso die Verinnerlichung dem Leben verpflichteter moralischer Werte durch die Einzelnen. Der Kältestrom nüchternen rationalen Denkens wird mit dem Wärmestrom menschlicher Gefühle zu verbinden sein, bedachte Ernst Bloch. Ein derartiger moralischer Wandel wird jedoch gar nicht erst zustande kommen oder seine Ansätze werden letztlich folgenlos bleiben, wenn er nicht zu einschneidenden Brüchen in den Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen führt.

Aber die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus setzen die Grenzen dafür dort, wo das große Kapitaleigentum und die Zentralität des Profits ernsthaft infrage gestellt werden. Dann neigen die Herrschenden zu autoritären und militanten Herrschaftsformen des Kapitals. Daher muss eine humanistische Moral bereits gegenwärtig so tief in der Gesellschaft verankert werden, dass die Machteliten künftig nicht mehr wagen können, brutale Formen der Gewalt für die Stärkung ihrer Herrschaft einzusetzen. Das erfordert allerdings, die Medien der Kontrolle der Herrschenden zu entwinden und die gegenwärtige Verengung der Denkräume zu sprengen.

Antje Vollmer hat in ihrem »Vermächtnis« darauf verwiesen, dass »das ungeheure und einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow […] das größte Wunder in einer Reihe wundersamer Ereignisse war«. Dafür zu sorgen, dass auf den Wegen zu einer solidarischen Gesellschaft künftig ein solches Wunder den friedlichen Verlauf von Transformationsprozessen tragen wird, ist eine der großen Herausforderungen für eine humanistische Moral.

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