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Kirchenasyl: Bedrohte Schutzräume
Die von Bund und Ländern gestartete »Abschiebeoffensive« erhöht auch den Druck auf das Kirchenasyl
Im vergangenen Jahr feierte der Verein Asyl in der Kirche, der als Dachorganisation der Landesvereine fungiert, seinen 40. Geburtstag. Erinnert wurde an die Bedeutung einer Institution, die in nicht wenigen Fällen dafür gesorgt hat, dass Menschen, denen die zuständigen Behörden jeden Schutzstatus verweigert hatten, kurzfristig vor Abschiebung bewahrt werden und dass ihre Fälle doch noch einmal überprüft werden.
Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, aber damals sorgte der Fall eines Mannes, der sich aus Angst vor der bevorstehenden Abschiebung das Leben genommen hatte, noch für breite Erschütterung und Empörung. Im August formierten sich mehrere Tausend Menschen zu einem Trauerzug für Cemal Kemal Altun. Ihr Ziel: der Friedhof der Berliner Heiligkreuzgemeinde. Diese evangelische Gemeinde hatte sich für den Verstorbenen eingesetzt.
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Wenig später gewährte die Gemeinde einer von Abschiebung bedrohten palästinensischen Familie in ihren Räumen Unterschlupf. Der damalige CDU-Senat wollte sie in das Bürgerkriegsland Libanon abschieben. Dieses beherzte Handeln eines Berliner Pfarrers und seiner Gemeinde gilt heute als Geburtsstunde der Institution Kirchenasyl in Deutschland.
Sie ist seither ein wichtiges Korrektiv zu den zahlreichen Fehlentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Manche Ablehnungen von Asylgesuchen sind schon formal rechtswidrig, werden aber trotzdem vielfach nicht angefochten, weil die Betroffenen nicht die nötigen Kontakte zu Flüchtlingsräten und anderen Initiativen haben. Oft wird Menschen ihre Geschichte schlicht nicht geglaubt und gegen sie entschieden, obwohl ihnen im Herkunftsland Gefahr für Leib und Leben und Verfolgung droht.
Doch Einsprüche und das Wiederaufrollen von Verfahren wollen Bund und Länder im Rahmen ihrer »Abschiebeoffensive« auf ein Minimum begrenzen. Und so ist auch das Kirchenasyl heute so stark unter Druck wie nie in seiner Geschichte. Begründet werden Maßnahmen wie die im Februar in Kraft getretene erneute Verschärfung des Asylverfahrensgesetzes mit der vermeintlichen Überforderung der Kommunen infolge des »Ansturms« Geflüchteter, die nur »irreguläre Migranten« genannt werden.
Letztlich wird es zwar nicht gelingen, »in großem Stil abschieben«, wie es Kanzler Olaf Scholz im Oktober formuliert hatte. Denn in den meisten Fällen von Menschen, die nur eine sogenannte Duldung haben, also theoretisch ausreisepflichtig sind, verhindern bürokratische und andere Hürden oder eine Erkrankung eine »Rückführung«.
Nichtsdestotrotz ist die Zahl der Abschiebungen gestiegen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums gab es von Januar bis März 2024 insgesamt 4791 Abschiebungen, im Vorjahreszeitraum waren es 3565. Die meisten Betroffenen wurden nach Nordmazedonien, in die Türkei und nach Georgien gebracht, das per Bundestagsbeschluss zum sicheren Herkunftsland erklärt wurde. Laut Ministerium lebten im März etwa 234 000 ausreisepflichtige Menschen in Deutschland, davon 46 000 ohne Duldung. Zugleich scheinen die Abwehrrhetorik der deutschen Regierung wie auch die verschärften Grenzkontrollen Wirkung zu zeigen. Laut BAMF wurden im ersten Quartal 65 419 neue Asylanträge gestellt und 15600 weniger als im Vorjahresquartal.
Brutalere Abschiebungen und Angriffe auf das Kirchenasyl sind derweil angesichts der Gesamtzahlen lediglich Symbolpolitik, mit der man der Bevölkerung gegenüber demonstrieren will, dass man durchgreife und die Lage unter Kontrolle habe. Dies geschieht unter Inkaufnahme von Traumatisierungen der Betroffenen. Denn selbst, wenn die Abschiebung scheitert, bleibt bei ihnen das Gefühl, nirgends mehr sicher zu sein.
Auch in Niedersachsen war die Abschiebung einer russischen Familie im Mai nicht der erste Fall, in dem Behörden in Gemeinderäume eindrangen. Der Flüchtlingsrat des Landes machte danach darauf aufmerksam, dass zwei Polizisten bereits am 25. April versucht hatten, einen Syrer aus einem Kirchenasyl in Schwanewede zu holen und abzuschieben.
Der Mann war auf seiner Flucht bereits durch Angehöriger lettischer Behörden misshandelt und tagelang inhaftiert worden und sollte trotzdem nach Lettland überstellt werden, weil er dort erstmals EU-Territorium betreten hatte. Die Abschiebung wurde nur aufgrund eines Zusammenbruchs des Betroffenen abgebrochen und seine Rückkehr ins Kirchenasyl gestattet.
Der Flüchtlingsrat verweist auch darauf, dass die Landesbehörden im Fall von Kirchenasyl durchaus Handlungsspielraum gegenüber dem BAMF hätten und nicht gezwungen sind, dessen Anträge auf »Überstellung« auszuführen. »Das Innenministerium hat es jederzeit in der Hand, Abschiebungen anzuordnen oder zu stoppen«, erklärte der niedersächsichse Flüchtlingrat.
Bei all dem betonen Flüchtlingsrat wie auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, das Kirchenasyl sei kein rechtsfreier Raum. Vielmehr werde auf Basis von Vereinbarungen mit den Ländern genau abgewogen, wem man diesen Schutzraum aufgrund besonderer Härte seiner Situation gewähre. Sowohl der frühere niedersächsische CDU-Innenminister Uwe Schünemann als auch sein Amtsnachfolger Boris Pistorius (SPD) hatten im Landtag bekräftigt, dass sie Entscheidungen der Kirchen aus Gewissensgründen respektieren und in deren Räumen keine Zwangsmaßnahmen verfügen würden.
Einen dramatischen, aber gescheiterten Versuch einer Abschiebung zweier junger Afghanen aus dem Kirchenasyl hatte es kurz vor Weihnachten in Schwerin gegeben, weitere im Juli 2023 in Nettetal-Lobberich (Nordrhein-Westfalen) und Darmstadt (Hessen).
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