Ausbreitung des Crack: Koks für Arme

Wie konnte sich Crack mit seinen verheerenden Wirkungen in deutschen Großstädten ausbreiten?

  • Fabian Kunow
  • Lesedauer: 7 Min.

Crack hat sich in den vergangenen 25 Jahren in Frankfurt zur meistkonsumierten Straßendroge entwickelt. In den letzten zwei, drei Jahren haben Berlin und viele andere Großstädte mit etablierten Drogenszenen nachgezogen. Wie im Frankfurter Bahnhofsviertel sind nun auch andere deutsche Großstädte mit einem offenen Crack-Konsum in bestimmten Straßenzügen konfrontiert. Oft finden Verkauf und Konsum in der Nähe einschlägiger Parks und Bahnhöfe statt. So offen die Folgen des Crack-Konsums in bestimmten Straßenzügen mittlerweile wahrnehmbar sind, so wenig wissen wir aber über die Entwicklungen und Mechanismen des dahinterstehenden Marktes.

Was ist Crack?

Crack ist rauchbares Kokain. Tibor Harrach, Pharmazeut und Mitarbeiter beim Berliner Drugchecking Projekt, erklärt gegenüber »nd.DieWoche« die chemische Beschaffenheit der Droge: »Kokain kommt in zwei leicht ineinander überführbaren Formen vor. Kokain-Hydrochlorid ist ein wasserlösliches Salz und kann geschnupft oder gespritzt werden. Die ungeladene Kokain-Base löst sich in organischen Lösungsmitteln und ist in Wasser unlöslich. In dieser Form kommt Kokain in Crack vor und kann geraucht werden.« Crack werde aus Kokain durch Erhitzen von Kokain-Hydrochlorid in Gegenwart einer basischen Substanz, in der Regel Backnatron (Natriumhydrogencarbonat), hergestellt. Damit bestehe die Droge aus der Kokain-Base, Zersetzungsprodukten von Kokain, den Resten der basischen Substanz und den Verunreinigungen, die in dem Kokain vorhanden waren, aus dem das Crack hergestellt wurde.

Die einzelne Konsumeinheit, der rauchbare Crackstein, ist durch die geringe Menge sehr billig, wirkt unmittelbar und macht durch den starken, aber nur sehr kurzen Rausch schnell abhängig. Darum sind Crack-Nutzer*innen »immer hinter dem Stein her«, wie es ein Crack-Abhängiger in einem Interview für die erste große Studie zu Crack in Deutschland beschreibt. Dieser Suchtdruck schafft eine Konsumdynamik, die von den vorhandenen Institutionen der Drogenhilfe nicht aufgefangen werden kann – zum Leidwesen der Nachbarschaften, wo der Konsum stattfindet, aber vor allem für die Crack-Konsument*innen selbst. Die Konsument*innen verwahrlosen, da nur noch der Gedanke an den nächsten Crackstein das Leben bestimmt. Elementare Dinge wie Essen, Trinken und Schlafen werden dagegen irrelevant, Körperpflege und Kleidung ohnehin – was die Cracknutzer*innen leicht identifizierbar macht. Cracksucht schafft eine psychische Abhängigkeit, die zurzeit noch nicht, anders als bei Heroinsucht, substituiert werden kann.

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Blackbox Drogenmarkt

In jüngster Zeit hat sich die Crack-Berichterstattung als neues journalistisches Thema etabliert. Erst schrieben die regionalen Zeitungen der betroffenen Städte, dann die großen Medienformate Schlagzeilen wie »Was Crack mit Deutschland macht« (»Spiegel«). Die Beiträge waren in der Regel gleich aufgebaut: Journalist*innen gehen an die einschlägigen Orte, wo Crack- und Heroinkonsum zusammen mit Obdachlosigkeit auftritt, beschreiben die dystopische Szene und lassen einige Schwerstabhängige zu Wort kommen. Im Anschluss werden Menschen aus der Sozialen Arbeit und Verantwortliche aus den Behörden befragt, die offen zugeben, keine Lösungen zu haben. Beim Publikum bleibt ein ratlos-schauriges Gefühl zurück. Was in diesen Beiträgen nicht zur Sprache kommt: wie eigentlich der Drogenmarkt funktioniert und welche gesellschaftlichen Voraussetzungen die viel beschworene Crack-»Epidemie« hervorgebracht haben.

Die Leiterin der Berliner Suchthilfeorganisation Vista, Nina Pritszens, beschreibt den Drogenmarkt im Interview als unreguliert und schwer durchschaubar. »Man guckt nur auf das, was zu sehen ist: also entweder auf die Menschen, die Substanzen konsumieren, oder auf Zoll und Polizei und das, was sie beschlagnahmen. Beides zeigt immer nur kleine Ausschnitte. Niemand weiß so richtig, wie der gesamte Markt aussieht oder was dort für Strategien verfolgt werden.« Anders als bei legalen Drogen wie Alkohol, Tabak oder süchtig machenden Medikamenten kann bei illegalen Drogen nicht in öffentliche Aktionärsberichte und Geschäftsbilanzen geschaut werden. Kapitalist*innen – und zwar auch drogendealende – mögen in der Regel keine Transparenz, erst recht nicht, wenn sie für ihren Handel in den Knast gehen.

Wir wissen also wenig über die Beschaffenheit des illegalisierten Drogenmarktes und damit über die Frage, warum Crack jetzt und nicht schon vor fünf oder zehn Jahren in hiesigen Großstädten derart um sich greift. Wer und aufgrund welcher Geschäftsüberlegungen traf die Entscheidung, das Kokain der eher gut Situierten auch in der Armutsvariante Crack anzubieten? Soll der eigene Absatz erhöht werden oder speist sich eine Nachfrage aus zunehmender Obdachlosigkeit?

Ein Indiz, dass der Anstieg von Crackkonsum in Deutschland Zeichen einer Überproduktion und Absatzkrise ist, könnte der Reinheitsgrad von Kokain sein. So berichtet Tibor Harrach, dass im Jahr 2023 bei 178 Kokainproben ein durchschnittlicher Gehalt von 78,5 Prozent Kokain-Hydrochlorid festgestellt wurde. Bis 2021 hat die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) in ihren REITOX-Berichten den Wirkstoffgehalt der von Polizei und Zoll sichergestellten Betäubungsmittel ausgewiesen: Er betrug 2021 bei Kokain aus dem Straßenhandel 86,7 Prozent Kokain-Hydrochlorid. 1995/96 lag der durchschnittliche Kokaingehalt laut Drugchecking von Eve & Rave e.V. in Berlin noch bei 50 Prozent.

Droge für die Aufstandsbekämpfung

Auch beim Blick in das Mutterland des Crack, den USA, fällt auf, dass Crack sich dort ab Mitte der 1980er Jahren in armen Schwarzen Communitys ausbreitete, als es zu viel vom »weißen Gold« gab. Für die Stadt Los Angeles konnte der Journalist Gary Webb in seiner Veröffentlichung »Dark Alliance: The CIA, the Contras, and the Crack Cocaine Explosion« nachweisen, dass große Mengen Kokain unter den Augen der CIA von Unterstützern antikommunistischer Contra-Rebellen in Nicaragua geliefert wurden, die damit ihren Krieg gegen die linke Regierung der Sandinisten finanzierten. Dieser Vorgang wurde Jahre später auch offiziell eingeräumt und ging in die Geschichte unter dem Namen »Contra-Affäre« ein.

Zu dieser Zeit hatte das US-Präsidentenpaar Nancy und Ronald Reagan schon den »War on Drugs« ausgerufen, der sich auch gegen die inländische Schwarze Bevölkerung richtete und das größte Gefängnissystem der Welt hervorbrachte. Sanho Tree vom Institute for Policy Studies in Washington, dort seit 1998 Direktor des Drug Policy Project, fasst für »nd.DieWoche« die Jahre der »Crack-Hysterie« zusammen: »Die wichtigste Lektion über Crack in den USA hat mit dem Zusammenspiel von Sensationsjournalismus, opportunistischen Politikern (einschließlich Demokraten) und strengen Mindeststrafengesetzen zu tun sowie damit, wie sie die Explosion des industriellen Gefängniskomplexes vorantrieben. Die Crack-Hysterie hat das Strafrechtssystem erheblich rassistischer gemacht, obwohl auch viele Weiße Crack konsumieren. Der Krieg gegen Crack hat den Schwarzen Gemeinden mehr geschadet als die Drogen selbst, und der Schaden hielt noch eine Generation lang an, nachdem Crack aus den Schlagzeilen verschwunden war.«

Die Länder des nördlichen Südamerika haben mit Kokain ein Weltmarktprodukt, das nach Jahrzehnten des »War on Drugs«, vermutlich sogar wegen diesem, weiterhin vielen Menschen ein vergleichsweise gutes Einkommen beschert, sei es in der Produktion, im Vertrieb oder im Verkauf. Einige wurden sogar reich und mächtig. Warum sollte sich das nach Jahrzehnten ändern, nur weil eine deutsche Innenministerin im Februar in Südamerika ein wenig Entwicklungshilfe und ein paar Kontaktbeamte in Aussicht gestellt hat? Kokainkonsum ist Realität, ob in den Fußballstadien, im Büro, auf der Bartoilette – oder eben als Verelendungsdroge Crack in bestimmten Straßenzügen bundesdeutscher Großstädte. Um hier etwas zu ändern, bräuchte es eine ganz andere Drogenpolitik jenseits von Illegalisierung und Kriminalisierung.

Fabian Kunow beschäftigt sich bei Bildungsverein »Helle Panke e. V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin« mit linker Metropolenpolitik.
Am 6. Juni 2024, 19 Uhr, findet in der Hellen Panke (Kopenhagener Straße 9, 10437 Berlin) das Podiumsgespräch »Crack Wave in Berlin: What we can learn from the history and experiences of the ›Motherland of Crack‹« statt. Auf dem Podium sitzen Astrid Leicht (Fixpunkt e.V.), Niklas Schrader (MdA – Die Linke Berlin), zugeschaltet aus den USA ist Sanho Tree (Institute for Policy Studies in Washington).

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