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KZ auf Kanalinsel: »Eine Serie von Vertuschungen«
Verantwortliche für Verbrechen in deutschem Konzentrationslager auf britischer Kanalinsel Alderney wurden nie zur Rechenschaft gezogen
Mehr als ein Dutzend schwere Befestigungsanlagen ziehen sich quer über Alderney, die nördlichste der bewohnten britischen Kanalinseln vor der Küste Frankreichs. Sie erinnern an die bewegte Geschichte der gerade einmal acht Quadratkilometer großen Insel, auf der heute etwa 2100 Menschen leben.
Die meisten der Befestigungsanlagen stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals befürchtete man in London einen französischen Angriff auf die Kanalinsel. Die Deutschen, die Alderney während des Zweiten Weltkriegs besetzten, fügten zahlreiche Bunker, Panzersperren und Tunnel hinzu. Außerdem errichteten sie auf Alderney das westlichste Konzentrationslager des Nazi-Regimes.
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Eine Untersuchung, die sich mit den Vorgängen von damals befasst hat, kommt nun zu dem Schluss, dass in dem einzigen deutschen KZ auf britischem Boden mehr als 1000 Menschen ermordet worden sein könnten – deutlich mehr, als bislang angenommen. Die Experten beklagen zudem, dass es die britischen Behörden nach Kriegsende versäumt hätten, gegen die deutschen Täter vorzugehen. Dabei waren diese den britischen Behörden bekannt.
Schon kurz nach ihrem Einmarsch auf Alderney im Sommer 1940 richteten die deutschen Besatzer vier Lager ein, in denen sie Arbeiter für den Ausbau der Befestigungsanlagen unterbrachten. Das Nazi-Regime plante, die Kanalinsel als Sprungbrett für einen Einmarsch in Großbritannien zu nutzen.
Zwei der Lager behausten Freiwillige. Im »Lager Norderney« hielten die Besatzer Zwangsarbeiter fest, von denen die meisten aus Russland und Polen stammten. Im Konzentrationslager »Sylt« wurden jüdische Gefangene untergebracht, die wie Arbeitssklaven behandelt wurden. Die SS übernahm im März 1943 die direkte Kontrolle über diese beiden Lager.
Zum Höhepunkt der Besatzung zwischen August und Oktober 1943 lebten auf Alderney mehr als 3200 Mitglieder der deutschen Streitkräfte und mehr als 5800 Arbeiter. Fast alle der 1500 Bewohner Alderneys waren vor der Ankunft der deutschen Besatzer evakuiert worden.
Die Abwesenheit lokaler Augenzeugen trug dazu bei, dass nach dem Kriegsende Gerüchte über ein angebliches Massenvernichtungslager auf Alderney die Runde machten. Dazu trug auch bei, dass die SS ihr Konzentrationslager beim Rückzug gesprengt hat. Auch anderswo haben die Nazis so versucht, Beweise für ihre Massenmorde zu vernichten.
Doch auch auf Alderney tobten die SS-Mitglieder ihre Gewaltlust aus. Als nach Kriegsende Captain Theodore Pantcheff, ein Ermittler des britischen Militärs, seine Arbeit dort aufnahm, berichteten Überlebende von Folter, Hunger, sadistischen Verstümmelungen und Exekutionen. Die Körper der Opfer hätten die Mörder oft einfach ins Meer geworfen.
Die Experten, die sich nun mit den Vorgängen von damals befasst haben, ermittelten, dass während der deutschen Besatzung zwischen 7608 und 7812 Gefangene nach Alderney gebracht wurden. Bis zu 1027 seien auf der Insel gestorben. Bislang war man von 389 Opfern ausgegangen. Die Besatzer brachten viele der Überlebenden nach Frankreich, wo sie diese beim Ausbau der dortigen Befestigungsanlagen einsetzten.
Die britischen Behörden hätten nach dem Kriegsende ernsthafte Untersuchungen angestrengt, mit dem Ziel, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, heißt es in dem 93-seitigen Bericht. Da die meisten Opfer sowjetische Staatsbürger waren, habe London den Fall an sowjetische Ermittler abgegeben. Diese hätten den Briten im Gegenzug deutsche Gefangene übergeben, die während des »großen Ausbruchs« aus einem Kriegsgefangenenlager im März 1944 britische Soldaten ermordet haben sollen. Den Vorgängen auf Alderney gingen die sowjetischen Ermittler nicht weiter nach. Doch 1981 enthüllte die Wochenzeitung »The Observer«, dass hochrangige Nazi-Offiziere, die für Gräueltaten auf Alderney verantwortlich waren, frei in der Bundesrepublik Deutschland lebten.
Innerhalb der britischen Regierung sei man über die Untätigkeit der Sowjets verärgert gewesen, schreiben die Verfasser des Berichts. Selbst etwas zur Ahndung der Verbrechen getan hätten sie allerdings nicht. Ganz im Gegenteil: Anthony Glees, Professor für Politikwissenschaften und ein Mitglied der Expertenkommission, spricht in diesem Zusammenhang von »einer Serie von Vertuschungen«.
»Es ist kaum zu begreifen, dass ausgerechnet Großbritannien es ablehnte, NS-Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen für entsetzliche Gräueltaten, die auf britischem Boden gegen Bürger von etwa 30 Nationen begangen wurden«, sagte Glees. Den Familien der Opfer sei dadurch Gerechtigkeit verweigert worden. Glees forderte die Regierung in London dazu auf, sich dafür zu entschuldigen.
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