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Missbrauch von Franz Kafka: Ein Fixpunkt geht spazieren
Ist jetzt alles Kafka oder was?
»Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«: Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht das öffentliche Zitieren dieses inflationär gebrauchten Kafka-Satzes unter Strafe gestellt werden sollte. Wer derart ranzig gewordene Phrasen drischt, bei dem dürfte der Wahrnehmungsapparat bereits so erfroren beziehungsweise abgestorben sein, dass selbst intensivste und mit flammendem Eifer verrichtete Kafka-Lektüre nichts mehr ausrichten kann.
Medien folgen ungeschriebenen Mediengesetzen. Und eines davon lautet: Zu Jubiläen muss Krawall gemacht werden. Kafkas Todestag liegt jetzt 100 Jahre zurück, weshalb der bedauernswerte Mann sich nicht mehr gegen den massenhaften Missbrauch seines Werks, seiner Person und seines Namens wehren kann, was wiederum zur Folge hat, dass wir heute den ganzen Unrat lesen müssen, der seit Wochen in rauen Mengen in die Feuilletons geschaufelt wird. »2024 wird das Jahr, in dem wir (…) gemeinsam in eine Welt eintauchen, die nie kafkaesker als heute war«, so eröffnete bereits im vergangenen Jahr das Goethe-Institut die gegenwärtig alles übertönende Floskel- und Reklamekanonade, der wir ungeschützt ausgeliefert sind.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Seither steht die Phrasenproduktion nicht still: »der Kafka-Kult«, »der Magier der Sprache«, »der Jahrhundertautor, der um sein Leben schrieb«, »der Ausnahmeschriftsteller«, »seine Geschichten haben bis heute nichts von ihrer Faszination verloren«, »seine Texte spiegeln seine Zerrissenheit«, »ein Muss für jedes Bücherregal«, »Kafka – ein vielschichtiges Phänomen«, »ungebrochen ein Fixpunkt der Moderne«, »kein anderer hat es so sehr zu einer Ikone gebracht«, »seine eiskalte und dennoch glühend heiße Sprache legt nichts fest, sondern Verschüttetes frei«.
Auch der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) enthält uns die unverzichtbarsten Informationen über Kafka nicht vor: Wir erfahren, dass der Jahrtausendschriftsteller dem Bier »keineswegs abgeneigt war« und dass seine spätere Verlobte Felice Bauer im Jahr 1913 in Berlin stets »tiptop up to date« gewesen ist. Und wie hat der Dichter sich in Prag und anderen Orten, an denen er sich aufhielt, fortbewegt? Mit dem E-Scooter? Dem Fliewatüüt? Nein. »Er wird sehr viel zu Fuß gemacht haben, spazieren gegangen sein«, weiß »Hans-Gerd Koch, einer der besten Kafka-Kenner« (RBB). Sapperlot!
Zum Thema: Strampeln bis Amerika – »Franz Kafka. Um sein Leben schreiben« – eine Spurensuche von Rüdiger Safranski
Des Weiteren lernen wir den tschechischen Maler und Bildhauer Jaroslav Róna kennen, der uns via Radio Prague International nicht nur mitteilt, dass er mit dem 1924 verstorbenen Franz Kafka »durchgehend in einem inneren Kontakt« steht, sondern der auch in der Lage ist, eine wichtige Lücke in der internationalen Kafka-Forschung zu schließen: »Aus den Zeichnungen seiner Zeitgenossen habe ich geschlossen, dass er eine Hakennase gehabt haben muss, aber beweisen lässt sich das nicht.«
Kein Journalist weit und breit ist indessen in Sicht, der sich für Schlagzeilen wie »Kafka unchained«, »Fit bleiben mit Kafka«, »Arbeiten wie Kafka – 10 Genies mit verrückten Brotberufen« oder »Kafka – der Querdenker« schämen würde oder dem das Obszöne an dieser Schmutzflut, die durch sämtliche Medien schwappt, überhaupt auffiele. Scham ist in unserer Zeit keine Kategorie, die noch irgendeine Bedeutung hätte.
Keine Ruhe darf einkehren, bevor das Leben des hakennasigen Querdenkers, der gern dem Bier zusprach, nicht mindestens zur »Event-TV-Serie« (»die nachfolgende Sendung wird Ihnen präsentiert von Pilsner Urquell«) sowie zum Kitschkinofilm verarbeitet worden ist. Natürlich auch nicht vergessen werden dürfen die lebenslangen Verdienste des leidenschaftlichen Spaziergängers und Sprachmagiers um den öffentlichen Nahverkehr: »Anlässlich des 100. Todestags Franz Kafkas erinnert in Prag eine neugestaltete Straßenbahn an den deutschsprachigen Schriftsteller. Kafka sei ein Autor von Weltrang gewesen, sagte der tschechische Kulturminister bei der Präsentation des Fahrzeugs in Prag.« (DPA). Die Eröffnung der ersten Franz-Kafka-Fußgängerzone dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein. Auch an Kafka-Frühstücksbrettchen, Kafka-Schlüsselanhängern, Kafka-Unterhosen und Kafka-Krawatten dürfe künftig kein Mangel herrschen.
Eine ganze Armee von Journalisten, die in ihrem Leben noch keine einzige Zeile vom »wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« gelesen haben, und eine ihnen willig hinterhertrottende Kompanie von selbsternannten Kafkaologen und »Kafka-Experten« versorgen uns derweil rund um die Uhr mit Kafka-Podcasts, Kafka-Ratespielen, Kafka-Tiktok-Videos und – das hatte ja auch noch gefehlt – einem Kafka-Rap. Damit wir nicht auf Kafka-Entzug kommen. Dem »schmächtigen Mann mit hypnotisierendem Blick« (»Augsburger Allgemeine«) kann man derzeit kaum entkommen. Sicher ist jedenfalls: Man könnte, wenn man wollte, auch seine Werke lesen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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