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Ukraine: Flucht über Fluss und Berge
Aus Angst vor der Front begeben sich ukrainische Männer auf die gefährliche Flucht ins Ausland
Die jüngsten Verschärfungen bei der Mobilisierung zeigen Wirkung. Gegenüber Pentagon-Chef Austin berichtete der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow von »positiven Trends bei der Mobilisierung und der Dynamik beim Wiederaufbau von Kampfbrigaden«.
Die verschärfte Mobilisierung wirkt sich auch auf andere Bereiche aus: Taxiunternehmen, Verkehrsbetriebe, Fabriken und Dienstleistungsfirmen suchen händeringend nach Arbeitskräften. Bei der Kiewer U-Bahn beispielsweise sind sieben Prozent der Mitarbeiter an die Front abgezogen. Die Metro hat derzeit 83 offene Stellen. Wegen des Personalmangels fahren die Züge seltener. Zwischen 45 und 60 Sekunden müssen die Fahrgäste momentan länger auf ihre Metro warten.
Mehrere Angriffe gegen Mobilisierungsbehörde
Und auch ein anderer Trend verstärkt sich: Die Wehrbehörde TZK, die die jungen Männer teilweise direkt von der Straße weg an die Front bringt, wird zunehmend unbeliebter. Am 30. Mai wurde in der städtischen Siedlung Katerynopil im zentralukrainischen Gebiet Tscherkassy auf das Haus eines Angehörigen des TZK ein Bombenanschlag verübt. Auf ihrer Facebook-Seite bezeichnet die Behörde den Anschlag als »beschämende Informationskampagne zur Diskreditierung des militärischen Personals der territorialen Rekrutierungs- und sozialen Unterstützungszentren und der Verteidigungskräfte der Ukraine«. In anderen Gegenden des Landes wurden TZK-Gebäude direkt angegriffen.
Doch auch, wer nicht zum Molotow-Cocktail greift, kann Probleme bekommen, wie Alexej Matuchno in Charkiw. Matuchno sitzt in Untersuchungshaft, weil er regelmäßig in Kommentaren des Telegram-Kanals »na samom dele v Charkowe« (was in Charkow wirklich passiert) Informationen über den aktuellen Aufenthaltsort von TZK-Mitarbeitern in Charkiw und Bilder dieser Personen veröffentlicht, berichtet das Nachrichtenportal »Asambleja«.
Karpaten werden neue Fluchtroute
Der verschärfte Umgang mit Kriegsdienstverweigerern lässt auch die Zahl der Fluchtversuche wehrpflichtiger Männer aus dem Land ansteigen. Mitte Mai berichtete das Portal »Uraua« von sechs »Drückebergern«, die beim Versuch festgenommen worden seien, über die Berge der Karpaten nach Rumänien zu gelangen. Dabei hätten die »Bergsteiger«, so »Uraua«, die in ihren Rucksäcken Zelte und Kletterausrüstung dabei hatten, zwischen 4000 und 8000 Dollar für das Geleit über die Grenze bezahlt. Inzwischen wurden erste Ermittlungen gegen die Flüchtenden und die Organisatoren eingeleitet.
Anfang April nahmen ukrainische Grenzschützer einen stark unterkühlten 42-jährigen Bewohner von Charkiw in den Bergen der Karpaten unweit der Grenze zu Rumänien fest, der sechs Tage lang im Schnee herumgeirrt war. Dabei habe er auch mehrfach Wölfe gehört, einen Luchs, Wildschweine und einen Hirsch gesehen, zitieren ihn ukrainische Medien.
Allein im Mai zehn Tote an der Grenze
Am Freitag vergangener Woche wurden sieben Ukrainer beim Versuch, über die Karpaten zum Grenzfluss Theiß zu gelangen, vom ukrainischen Grenzschutz festgenommen. Dieser hatte die Männer, die aufblasbare Boote in ihrem Gepäck mit sich führten, geortet und 100 Meter vor der Grenze festgenommen.
Trotz gehäufter Festnahmen und Todesfälle an der Theiß ist diese nach wie vor ein beliebter Ort zum illegalen Verlassen des Landes. Zehn Männer seien allein im Mai bei dem Versuch ums Leben gekommen, durch die Theiß nach Rumänien zu schwimmen, berichtet der ukrainische Grenzschutz auf seinem Telegram-Kanal.
Der Grenzfluss Theiß ist auch im Sommer gefährlich
Auch im Sommer ist die Theiß ein eiskalter Fluss. Starke Strömungen, spitzige Steine und Bäume im Wasser setzen auch guten Schwimmern zu. In der Bevölkerung gehen Gerüchte um, der ukrainische Grenzschutz würde auch auf Fliehende schießen. Am 30. Mai berichtete das Portal »Hromadske« von solch einem Vorfall, bei dem der ukrainische Grenzschutz 50 Meter vor der Staatsgrenze »gezwungen war, auf einen Fliehenden Warnschüsse abzugeben«, weil dieser sich einer Festnahme hatte entziehen wollen.
Laut Andrej Demtschenko vom ukrainischen Grenzschutz arbeitet die Behörde aktiv »mit den Grenzschützern der benachbarten Länder Europas und von Moldau« zusammen. »Wenn wir den Versuch eines illegalen Grenzüberganges beobachten, ihn aber gleichzeitig nicht verhindern können, übermitteln wir diese Information an die andere Seite mit der Bitte, dass diese die Grenzverletzer festnehme«, zitiert ihn der russische Dienst der BBC. In einigen Fällen würde die andere Seite die Grenzverletzer sofort zurückschicken, manchmal aber auch nicht. Welche Länder er damit meint, wollte er indes nicht sagen.
Wer aufgegriffen wird, soll direkt zur Mobilisierungsbehörde
Es gibt keine offiziellen Zahlen zur Anzahl der »Drückeberger«, die das Land verlassen. Der »Economist« zitiert am 29. Mai dieses Jahres einen Fluchthelfer, der an der rumänisch-ukrainischen Grenze lebt. Dieser spricht von 30 bis 40 Männern, die er täglich auf die andere Seite des Flusses bringe. Man kann davon ausgehen, dass er nicht der einzige Fluchthelfer an der rumänisch-ukrainischen Grenze ist. Und dies wiederum bedeutet, dass deutlich mehr als 40 Ukrainer jeden Tag aus dem Land fliehen.
Wer es nicht schafft, dem droht die Front. Anfang Juni erklärte ein hochrangiger Grenzbeamter aus der Bukowina, dass Männer, die an der Grenze aufgegriffen werden, nicht mehr vor Gericht gebracht, sondern gleich dem TZK übergeben werden.
Mitarbeit: Stanislaw Kybalnik, Charkiw
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