Armut verkürzt das Leben

Studie zeigt direkten Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine Patientin ertastet in ihrer rechten Brust mehrere große harte Stellen. Sie bekommt von ihrer Gynäkologin eine Überweisung zu einem Facharzt. Die Medizinerin bedauert dabei, es könne Monate dauern, bis man einen Termin bekomme. Die Patientin versucht es lieber gleich in einem Krankehaus, wo ihr innerhalb von zwei Tagen eine Gewebeprobe entnommen wird. Nach zwei weiteren Tagen ist an einem Freitag die Diagnose da: Brustkrebs! Schon am Montag darauf wird die Patientin operiert, denn es eilt. Das ist eine wahre Geschichte. 15 Jahre ist das her. Die Frau hat überlebt. Aber der Chirurg sagte ihr damals: Wäre sie erst in zwei Monaten gekommen, wäre es zu spät gewesen. Er hätte sie dann nicht mehr retten können.

Wer verzögert behandelt wird, kann daran sterben. In diesem Lichte ist zu betrachten, was Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung am Donnerstag sagt: 34 Prozent der gesetzlich Krankenversicherten müssen länger als drei Wochen auf einen Facharzttermin warten, aber nur 18 Prozent der privat Versicherten. Gesundheit, ja das Leben, hängt vom Einkommen des Patienten ab. Im Auftrag der Linksfraktionen in den Bundesländern hat Grabka die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland untersucht. Im Titel seiner Studie ist es noch als Frage formuliert: »Weil du arm bist, musst du früher sterben?«

Die Antwort, die Grabka gibt, lautet aber eindeutig: Ja! Frauen, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens verfügen, also über weniger als 1300 Euro netto im Monat, haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 78,4 Jahren. Frauen, die mehr Geld haben, werden entsprechend älter – bei mehr als 150 Prozent des mittleren Einkommens liegt ihre Lebenserwartung bei 82,8 Jahren. Noch deutlicher ist der Unterschied bei den Männern: Arme Männer werden im Schnitt nur 71 Jahre alt und reiche 79,6 Jahre.

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Ihr ganzes Leben lang, von der Geburt an, sind die Menschen mit höherem Einkommen in der Regel gesünder. Die mit den geringeren Einkommen werden häufiger krank und früher pflegebedürftig. »Ein erschreckender Befund«, sagt Grabka am Donnerstag im brandenburgischen Landtag. Die Ungleichheit hat zuletzt sogar noch zugenommen. Zwar stieg die Lebenserwartung durch die Fortschritte der Medizin in allen Einkommensschichten, bei den ärmsten Frauen und Männern von 1992 bis 2016 aber nur um 0,6 beziehungsweise 1,8 Jahre, während es bei den begüterten 3,7 und 5,7 Jahre waren. Während ihres Lebens sind die Armen außerdem inzwischen insgesamt häufiger und schwerer krank und die Reichen seltener, als sie es vor 20 Jahren waren.

Schon während seines Studiums an der Technischen Universität Berlin hat sich Grabka Ende der 80er Jahre mit dem Thema befasst. Heute ist er 56 Jahre alt und nennt es erschreckend, dass sich die gesundheitliche Ungleichheit noch verschärft hat. Nach seiner Ansicht birgt die Situation »sozialen Sprengstoff«. Die Forschung sei sich übrigens international einig, dass nicht etwa Menschen durch Krankheit in die Armut rutschen, gleichwohl dies im Einzelfall vorkommen kann. Es seien umgekehrt die finanziellen Verhältnisse für einen guten oder schlechten Gesundheitszustand ursächlich.

Insofern könnte die Politik sich bemühen, das Gesundheitswesen auf die soziale Ungleichheit einzustellen und die Folgen zu mildern, indem sie beispielsweise die Zwei-Klassen-Medizin abzuschaffen versucht. Wer das Übel aber an der Wurzel bekämpfen wolle, müsse die soziale Ungleichheit beseitigen, bestätigt Grabka. Er verweist da auf die Schwierigkeiten alleinerziehender Mütter, die zu 35 Prozent armutsgefährdet seien – und dies nicht wegen einer etwa schlechten Berufsausbildung. Nein. Aber eine Verkäuferin, die bis 21 Uhr oder länger im Laden stehen solle, oder eine Krankenschwester, die Nachtschichten schieben müsse, wo solle die hin mit ihren kleinen Kindern? So lange habe keine Kita geöffnet.

»Nicht nur erschreckend, sondern hochgefährlich«, nennt Brandenburgs Linksfraktionschef Sebastian Walter die Verhältnisse. Er hat seinen zweieinhalb Jahre alten Sohn am Morgen in die Kita gebracht und ihn quält die Vorstellung, dass ein Freund seines Sohnes eine geringere Lebenserwartung hat, nur weil dieser Freund bei einer alleinerziehenden Mutter mit einem geringeren Einkommen aufwächst. »Das ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, die nicht vom Himmel gefallen ist«, findet Walter.

Er hat noch ein zweites Beispiel: Seine Brille ist nicht nur entspiegelt, sondern auch noch mit einem Blaufilter versehen, der ihm die Arbeit am Bildschirm seines Computers erleichtert. »Ich kann mir eine teure Brille leisten. Meine Augen werden damit nicht so belastet«, sagt der Oppositionspolitiker. Er kritisiert die jahrzehntelange Ökonomisierung des Gesundheitswesens. So nennt er das. Er will etwas anderes. Die Richtung dabei ist klar: »Es muss nicht darum gehen, ob sich ein Gesundheitswesen rechnet, sondern ob es gesund macht.« Walter stört das Achselzucken, mit dem die gruseligen Zustände in anderen Parteien hingenommen werden.

Betroffen von einem schlechteren Gesundheitszustand und einer geringeren Lebenserwartung seien übrigens nicht nur wenige arme Menschen, sondern immer größere Anteile der Bevölkerung, erklärt Walter. Auch Familien der klassischen Mittelschicht mit Eigenheim und zwei Einkommen haben dem Landtagsabgeordneten zufolge finanzielle Schwierigkeiten – zum Beispiel, wenn sie mehrere Tausend Euro für Zahnersatz bezahlen sollen. Wenn man wisse, dass heute jede zweite Frau in Brandenburg, die in den Ruhestand tritt, weniger als 750 Euro Rente im Monat erhalte, dann wisse man, dass bald eine Mehrheit auch der Mittelschicht in eine prekäre Lage gerate.

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