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Links von Labour
Labour wird ein klarer Wahlsieg vorhergesagt. Doch der Rechtsruck der Führung hat viele Mitglieder von ihrer Partei entfremdet.
Mit schnellen Schritten kommt Zaina Hayat die Straße runter. Es ist kurz vor zwölf Uhr, sie will nicht zu spät zum Protest kommen. Vor dem Rathaus in Ilford, einem Stadtteil tief im Osten Londons, beginnt gleich eine Kundgebung für Palästina. Hayat hat in den vergangenen acht Monaten an unzähligen solcher Demonstrationen teilgenommen, so wie Hunderttausende andere Briten.
Aber seit Rishi Sunak für den 4. Juli Neuwahlen ankündigte, hat die pro-palästinensische Bewegung stark an innenpolitischer Bedeutung gewonnen. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren sorgt ein ferner Krieg dafür, dass politische Loyalitäten in Großbritannien aufgeweicht werden, insbesondere in den Reihen der Linken.
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Zaina Hayat ist 59 Jahre alt und arbeitet in der Modebranche hier in Ilford. Seit sie wählen kann, hat sie ihr Kreuz bei Labour gemacht, oft ist sie sogar selbst Klinkenputzen gegangen. Damit ist jetzt Schluss: »Niemals werde ich für Keir Starmers Labour-Partei stimmen«, sagt sie. Der wichtigste Grund: »Gaza.« Sie wirft Starmer vor, die israelischen Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung zu billigen, den »Genozid«, wie sie sagt.
Mittlerweile fordert der Labour-Chef einen Waffenstillstand, wie die meisten führenden westlichen Politiker. Aber der Sinneswandel kam spät: Monatelang pochte Starmer auf Israels Recht zur Selbstverteidigung und hielt sich mit Kritik an der israelischen Führung zurück. Im Oktober hatte er sogar vertreten, Israel habe das Recht, der Bevölkerung im Gazastreifen Wasser-, Strom- und Nahrungsmittelzufuhr abzustellen.
Hayat kann es ihm nicht verzeihen – und sie ist nicht allein. Der Schulterschluss Starmers mit Israel hat bei weiten Teilen der britischen Linken Enttäuschung und Zorn ausgelöst. Dutzende Gemeinderäte haben die Labour-Partei verlassen, zahlreiche Basisaktivist*innen haben in den sozialen Medien ihren Austritt öffentlich gemacht; seit dem Herbst hat Labour über 30 000 Parteigänger verloren. Wie tief der Frust bei den Wähler*innen sitzt, haben auch die Kommunalwahlen Anfang Mai gezeigt: In vielen Wahlkreisen mit hoher muslimischer Bevölkerung brach das Votum für Labour empfindlich ein.
Es geht aber nicht nur um Gaza. In den vier Jahren seit Starmer an die Spitze der nominell sozialdemokratischen Partei getreten ist, hat er einen quietschenden Rechtsschwenk vollzogen. Unzählige seiner progressiven Vorhaben hat er fallengelassen, viele seiner früheren Versprechen gebrochen. Ein paar Beispiele: Es wird keine Vermögenssteuer geben, dafür will Starmer die von den regierenden Tories eingeführte Beschränkung des Kindergelds für arme Haushalte beibehalten; der Labour-Chef steht voll hinter den harschen Antiprotestgesetzen der jetzigen Regierung; er hat das versprochene grüne Investitionsprogramm eingestampft; und er verspricht, eine harte Migrationspolitik zu verfolgen.
»Die Partei wird nicht das Geringste unternehmen, um das Leben der Leute zu verbessern oder die Krisen anzugehen, die Großbritannien in die Katastrophe geführt haben«, schrieb der prominente Aktivist und Publizist Owen Jones im März, als er seinen Austritt aus der Labour-Partei verkündete.
Im Lauf der vergangenen Monate hat die Desillusionierung mit Labour zu einer Reihe von Alternativkandidaturen geführt. Im ganzen Land haben linke Politiker*innen Kampagnen gestartet, die Labour Konkurrenz machen. In Holborn and St Pancras etwa, im Londoner Zentrum, tritt der vormalige Anti-Apartheid-Aktivist Andrew Feinstein gegen Keir Starmer an. Im nordenglischen Leicester fordert die ehemalige Labour-Abgeordnete Claudia Webbe ihre frühere Partei heraus. Ex-Parteichef Jeremy Corbyn, den Starmer aus der Fraktion geschmissen hat, vertrat seinen Sitz Islington North vierzig Jahre lang für Labour – jetzt will er als Unabhängiger ins Unterhaus einziehen. Auch in Ilford ist eine Basiskampagne im Gang, um Labour links zu überholen.
Zaina Hayat schafft es noch rechtzeitig zum Rathaus im Stadtzentrum, wo sich inmitten des samstäglichen Shopping-Gewusels die Protestierenden versammelt haben. Eine zierliche Frau mit Handtasche und braunem Kopftuch tritt ans Mikrofon und sagt mit überraschend lauter Stimme: »Mein Name ist Leanne Mohamad. Ich bin Britisch-Palästinenserin, ich bin hier aufgewachsen, und ich stelle mich als Unabhängige zur Wahl für Ilford North.« Ein lautes »Whoop, whoop!« geht durch die Menge. Mohamad ist eine der prominentesten Herausforder*innen Labours bei dieser Wahl – und sie malt sich Chancen aus, den Sitz zu gewinnen.
Mohamad ist gerade einmal 23 Jahre alt. Sie arbeitet in einem Jugend- und Sozialzentrum in Ilford und kennt die Probleme der Leute in ihrem Quartier, darunter Armut und Wohnungsmangel. Ein besonderes Anliegen ist ihr der Gesundheitsdienst NHS. Ihr Konkurrent in Ilford North, der Labour-Abgeordnete Wes Streeting, ist im Schattenkabinett für Gesundheit zuständig; er hat immer wieder durchblicken lassen, dass der Privatsektor in der – derzeit staatlich organisierten – Gesundheitsfürsorge künftig eine größere Rolle spielen soll. »Streeting hat Spenden von privaten Gesundheitskonzernen angenommen, er will unseren NHS privatisieren«, sagt Mohamad in einem neuen Dokumentarfilm über ihre Kandidatur. »Wir hingegen sind eine Basiskampagne. Wir stehen für die Gleichheit aller Menschen.« Insbesondere ethnische Minderheiten fühlen sich von Labour überhaupt nicht vertreten, sagt Mohamad.
Seit Beginn des Wahlkampfs hat die Labour-Führung nicht eben viel getan, um diesen Eindruck zu entschärfen. Letzte Woche versuchte sie, Diane Abbott, die erste schwarze Parlamentsabgeordnete Großbritanniens und für viele eine Ikone, von der Wahl auszuschließen. Die linke Politikerin war letztes Jahr suspendiert worden, nachdem sie geschrieben hatte, dass Jüd*innen und Roma einer weniger schlimmen Form von Rassismus ausgesetzt seien als Schwarze. Abbott entschuldigte sich gleich darauf – aber dennoch blieb sie monatelang von der Fraktion ausgeschlossen. Zur Wahl wollte Starmer sie nicht antreten lassen. Das löste einen Chor der Entrüstung aus, es gab Straßenproteste für Abbott, am Ende knickte Starmer ein.
Anders verhält es sich mit Faiza Shaheen, einer weiteren langjährigen linken Kandidatin, die ihrem Tory-Konkurrenten 2019 fast den Sitz weggeschnappt hätte. Sie hatte sich schon mit Enthusiasmus in den Wahlkampf gestürzt, meist mit ihrem wenige Wochen alten Baby im Arm. Dann wurde sie letzte Woche plötzlich per Email benachrichtigt, dass sie nicht für Labour antreten dürfe; die Entscheidung war endgültig.
Dass Starmers Team gleich zwei prominente Kandidatinnen aus ethnischen Minderheiten – Shaheen ist Muslimin – ausbooten wollte, hat bei vielen für Bestürzung gesorgt. Sieben weitere Gemeinderäte sind am Mittwoch aus der Labour-Partei ausgetreten. Als Gründe nannten sie Gaza sowie die Behandlung von Abbott und Shaheen durch die Parteiführung; sie sprachen von »institutionellem Rassismus« in der Labour-Partei. Am gleichen Tag machte Shaheen bekannt, dass auch sie als Unabhängige zur Wahl antreten werde.
Leanne Mohamad nahm die Affäre um Shaheen und Abbott als weiteres Indiz, dass sich die Labour-Partei nicht um die Interessen von Muslimen und anderen ethnischen Minderheiten schere. »Wir müssen diesen Zwei-Parteien-Albtraum beenden. Wählt am 4. Juli unabhängig.« Viele werden es tun, gerade in Ilford North. Es ist ein Wahlkreis, in dem eine energische Kampagne wie jene von Mohamad viel Schwung entwickeln kann. Das liegt auch daran, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung Muslim*innen sind; das Thema Gaza treibt die Leute hier besonders stark um.
Die Kandidatur von George Galloway – einem ehemaligen Labour-Abgeordneten, der sozialkonservative Positionen und Antiimperialismus auf recht erratische Weise miteinander verbindet – zeigte Anfang Mai, was für eine Sprengkraft die Ereignisse im Nahen Osten besitzen. In einer Ersatzwahl gewann er den nordenglischen Sitz Rochdale dank einer Kampagne, die er vor allem auf seiner Unterstützung für Palästina aufbaute. Die Labour-Führung ist sich bewusst, dass so etwas auch in anderen Wahlkreisen passieren könnte. Sie hat mehrere urbane Zentren mit ähnlicher Demografie identifiziert, in denen sie wegen ihrer Gaza-Politik um Stimmen fürchten muss.
Dennoch wird es für die unabhängigen Politiker schwierig sein, mehr als eine Handvoll Sitze zu gewinnen. Im anachronistischen britischen Mehrheitswahlsystem ist es für neue Parteien kaum möglich, die Vorherrschaft der großen Parteien zu brechen. An einem Erdrutschsieg Labours zweifelt denn auch kaum jemand.
Aber die Graswurzelbewegungen, die jetzt in Ilford und in vielen anderen Wahlkreisen durch hartnäckige Basisarbeit aufgebaut werden, könnten bald an Bedeutung gewinnen. Denn wenn die Labour-Partei so regieren wird, wie es ihr Wahlkampf vermuten lässt – also wenig progressiv – dann würde sich Raum öffnen für eine außerparlamentarische Opposition. Zaina Hayat ist sich auf jeden Fall sicher, dass die Bewegung auf der Straße wachsen wird: »Viele Leute merken derzeit, dass die Politiker nur ihren eigenen Interessen dienen. Wenn dieses Vertrauen einmal verspielt ist, bekommt man es nur schwer wieder zurück.«
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