Sand, Sand und Himmel: Auf den Spuren Thomas Manns in Nida

Ausflug an die litauische Ostseeküste

  • Nicole Quint
  • Lesedauer: 6 Min.

Er spreche nicht leicht von Glück, hat er einmal in einem Brief geschrieben. In Nidden aber muss Thomas Mann sehr glücklich gewesen sein. Das kann man an den schwärmerischen Schilderungen in seinem Essay »Mein Sommerhaus« erkennen; vor allem aber sieht man das auf den vielen Fotografien, die den Schriftsteller zeigen, wie er in flottem Männerbadeanzug, mit dunklen Strümpfen und Strumpfhaltern (!) im Sand sitzt, sich mit nassen, zurückgekämmten Haaren in einen Bademantel hüllt oder wie er im Schatten eines Strandkorbs entspannt in einem Buch liest. Eines dieser »eigentümlich bergenden Sitzgehäuse«, die er so liebte und in denen er sogar arbeiten konnte, hatte er sich extra auf die Kurische Nehrung bringen lassen.

Es sind diese Bilder, die am stärksten mit seiner oft beschworenen Liebe zum Meer korrespondieren und die vermitteln, was diese merkwürdig schöne Landschaft an der litauischen Ostseeküste ihm bedeutete.

Ein rund 100 Kilometer langer Naturdamm aus Sand, Schlick und Lehm, der vom russischen Kaliningrader Gebiet, früher Königsberg, bis kurz vor das litauische Festland reicht und sich trennend zwischen Ostsee und Haff legt – das ist die Kurische Nehrung. An manchen Stellen ist dieser Sandfinger nur einen Kilometer breit, und mehr als 30 Minuten braucht man nie, um quer über die Nehrung von einem ans andere Ufer zu gelangen. Hüben fliegen, bauschen und kräuseln sich die Wellen der Ostsee, drüben spiegeln sich tief hängende Sahnewolken in der seelenruhigen Oberfläche des Haffs. Wer weiß bei so viel Wasser noch zu sagen, ob die Nehrung nun zum Land oder zum Meer gehört?

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Sie hat etwas Amphibisches. Ein Eindruck, der auf einer Wanderung durch die Wüstenlandschaft jedoch alsbald verfliegt, denn auch das ist die Kurische Nehrung – ein kleiner sandiger Kosmos, eine »Sahara der Ostsee« mit einigen der höchsten Dünen Europas. »Alles ist weglos, nur Sand, Sand und Himmel. Man könnte glauben, in Nordafrika zu sein«, schrieb Thomas Mann über dieses beigefarbene Gebirge.

Anfang der 30er Jahre hatte der Schriftsteller sich so sehr in die Landschaft der Kurischen Nehrung verliebt, dass er sich ein Sommerhaus in Nidden (litauisch: Nida) errichten ließ. »Die phantastische Welt der Wanderdünen, die von Elchen bewohnten Kiefern- und Birkenwälder zwischen Haff und Ostsee, die wilde Großartigkeit des Strandes haben uns so ergriffen, dass wir beschlossen, an so entlegener Stelle einen festen Wohnsitz zu schaffen«, erklärte Mann seine Beweggründe.

Von 1930 bis 1932, verbrachte er mit seiner Familie in Nidden glückliche Sommerwochen. Dann zwang die Machtübernahme der Nationalsozialisten ihn ins Exil. Sein Ferienhaus wurde im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört. Heute steht als originalgetreuer Nachbau das Thomas-Mann-Museum an gleicher Stelle. Ein charmantes zweigeschossiges Holzhaus, rotbraun gestrichen, mit einem Dach aus Schilf, zwei gekreuzten Pferdeköpfen am First und tiefblauen Fensterläden. Erbaut auf einer Anhöhe über dem Haff, rühmte der Schriftsteller die »großidyllische Umschau« und fühlte sich »wie auf einem Schiff«.

Dem Kommandobrückenblick, der aus Manns Arbeitszimmer in der oberen Etage, weit hinaus auf die Bucht reichte, stellen sich inzwischen jedoch einige hochgewachsene Kiefern in den Weg. Auch sonst ist nicht viel beim Alten geblieben. Nidden, das bis 1918 und von 1938 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu Ostpreußen gehörte, verschwand wie die ganze Kurische Nehrung für Jahrzehnte hinter dem eisernen Vorhang.

Thomas Manns Ferienhaus war zur Kriegsruine verkommen. Von Granaten getroffen, Fenster und Türen als Brennholz verheizt, die Möbel geplündert – die Pläne zum Abriss verwarf die sowjetische Verwaltung erst Mitte der 50er Jahre und ließ das Gebäude als Gemeinschaftsunterkunft für Arbeiter wieder aufbauen. Auch von diesem Teil der Geschichte ist heute nichts mehr zu sehen.

Mit Schautafeln, vielen Fotos und Zeitungsausschnitten wird versucht, diese Leerstellen zu überdecken, um wenigstens eine ungefähre Vorstellung vom Schauplatz der Mann’schen Sommerurlaube zu vermitteln. Vergeblich. Sie sagen einem nichts, diese Räume, sie informieren bloß – darüber, dass die Einheimischen das Anwesen »Onkel Toms Hütte« genannt haben, dass die Manns abends gemeinsam im großen Wohnzimmer saßen, sich vorlasen oder auf dem eigens mitgebrachten Grammophon Schallplatten spielten, meist Wagner.

Von einem auf die Wand projizierten Foto lächelt Thomas Mann. Umringt von seiner offensichtlich gut gelaunten Familie, ist er am Strand von Nidden auf einen Poller gestiegen, den Spazierstock in der linken Hand, in der rechten ein Taschentuch, mit dem er fröhlich winkt. Da blitzt es kurz auf, Manns großes Glück – das Leben am Meer.

Sieben Jahre alt war der kleine Thomas, als er im Jahr 1882 erstmals mit seiner Familie Ferien in Travemünde machte und seine lebenslange Liebe zur Ostsee ihren Anfang nahm. Auch später hat er immer das Wasser gesucht – an der Adria, der Côte d’Azur, auf Sylt, am Pazifik im kalifornischen Exil, im holländischen Noordwijk. Die meisten dieser Stationen hat er literarisch verewigt, oft mit dem Meer als zentrales Motiv. So nahmen Hanno Buddenbrook, Tonio Kröger, Gustav von Aschenbach und all die anderen Romanfiguren Platz in den Souffleurkästen unseres Lebens und rufen uns seitdem leise und beharrlich an wellenumspülte Sehnsuchtsorte.

Kann man dort tatsächlich noch der tieferen Wahrheit von Manns Meeresliebe nahekommen? Vermutlich verschlechtert vor allem das Doppeljubiläum die Chancen darauf. 2024 steht ganz im Zeichen des Romans »Der Zauberberg«, der vor genau 100 Jahren veröffentlicht wurde. 2025 darf dann der 150. Geburtstag des Schriftstellers gefeiert werden – und smarte Marketingmenschen werden aus seinen literarischen Meisterstücken touristische Verkaufsargumente fabrizieren. Künstliches Sanatoriumsflair in den Schweizer Bergen oder eine Überdosis Buddenbrooks in Lübeck?

Thomas Mann selbst zöge sehr wahrscheinlich dorthin, wo das »Bewusstsein von Zeit und Raum und allem Begrenzten still selig untergeht«, an graublaues Ostseewasser, das sich weit draußen in weißen Wellenkämmen bricht und an dessen Ufern urige Fischerhäuser mit schwingenden Kurenkahnwimpeln vor der Tür von alten Zeiten erzählen. An diesem verheißungsvollen Ort reichen lichte Kiefernwälder bis an den Strand hinunter, wo bienenbraune Bernsteintropfen am Wellensaum auf ihre Finder warten.

Am Abend, wenn sich eine klösterliche Stille über das Ufer von Nidden legt, schimmert es auf der Farbpalette des Haffs zartgelb, rosa und babyblau, und die hohen Dünen beginnen unwirklich hell vor dunklem Wald zu leuchten. Auf Thomas Manns persönlicher Landkarte der Orte, an denen sich das Meer besonders intensiv lieben ließ, trug die traumversunkene Landschaft der Nehrung eine besonders dicke Markierung, aber auch einen mahnenden Hinweis: »Nidden ist wunderschön, aber reden wir nicht zu laut davon, damit nicht die Welt es entdecke und sich mit der ihr eigenen lächerlichen Sehnsucht auf seinen Frieden stürze, um ihn zu zerstören.«

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