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NS-Massaker in Distomo: Ein ungesühntes deutsches Verbrechen
Vor 80 Jahren löschte die SS den Ort Distomo in Griechenland aus
Als Sture Linnér am 13. Juni 1944 die mittelgriechische Kleinstadt Distomo erreichte, war er schockiert. »Der Geruch war unerträglich. Im Dorf selbst brannte noch Feuer in dem Rest der verbrannten Häuser. Auf der Erde lagen zerstreut hunderte Menschen jeden Alters, von Greisen bis Säuglinge[n]. Vielen Frauen haben die Soldaten den Bauch mit den Bajonetten zerschnitten und die Brust herausgerissen. Andere lagen gewürgt, umwickelt mit ihren Gedärmen um ihren Hals«, schrieb der schwedische Diplomat und damalige Vorsitzende des Roten Kreuzes im besetzten Griechenland später in seinem Buch »Meine Odyssee« über das Verbrechen der Deutschen.
Am 10. Juni 1944 hatten Angehörige eines Regimetns der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division 218 Einwohner*innen von Distomo ermordet und den Ort anschließend niedergebrannt. Die Opfer waren vor allem alte Menschen und Frauen, sowie 34 Kinder und vier Säuglinge. Die meisten der rund 1600 Einwohner*innen hatten Distomo bereits vorher verlassen.
Den grauenhaften Massenmord an wehrlosen Menschen stellten die Täter als Vergeltung für einen Angriff griechischer Partisan*innen auf die deutschen Besatzer dar. Die Täter und ihre Befehlsgeber wurden nie bestraft.
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Erst 2001 gründeten Antifaschist*innen aus Deutschland und Griechenland den Arbeitskreis (AK) Distomo mit der zentralen Forderung, die Angehörigen der Opfer zu entschädigen. Vorausgegangen war ein Urteil des Landgerichts Livadia aus dem Jahr 1997. Danach sollte die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des faschistischen Deutsches Reichs Überlebenden und Angehörigen der Opfer Entschädigungen in Höhe von 28 Millionen Euro zahlen.
Doch auch fast 30 Jahre später ist kein Geld geflossen. Bisher verweigerten sämtliche Regierungen in Deutschland jegliche Zahlungen mit dem Argument, dass der Staat immun gegen die Entscheidungen griechischer Gerichte sei.
Auch eine Zwangsvollstreckung des Urteils in Griechenland ist nicht möglich, weil dafür bis heute die Zustimmung der griechischen Regierung fehlt. Die einzige Möglichkeit für seine Durchsetzung wären Zwangsvollstreckungen im Ausland. Tatsächlich hat ein italienisches Gericht Vermögenswerte der Deutschen Bank bis heute beschlagnahmt. Weil aber die deutsche Regierung intervenierte, wurde das Geld nicht an die Bürger*innen von Distomo ausgezahlt und bleibt praktisch eingefroren, sagt Martin Klingner.
Der Rechtsanwalt engagiert sich seit Jahren im AK Distomo, der zur Stimme der Opfer und ihrer Angehörigen wurde. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat der Arbeitskreis auch in Deutschland viele Veranstaltungen organisiert, um die deutsche Verbrechensgeschichte bekannt zu machen. Mehrfach war dabei Argyris Sfountouris zu Gast. Er hatte als Vierjähriger das SS-Massaker überlebt, weil er sich versteckte. Der Schweizer Regisseur Stefan Haupt hat sein Schicksal in dem Film »Ein Lied für Argyris« verarbeitet.
Bis heute kämpft Sfountouris für Entschädigungen. Doch Deutschland blockiert. Das Land, das sich gern zum Aufarbeitungsweltmeister erklärt, will längst nicht mehr mit seiner blutigen Vergangenheit konfrontiert werden. Diejenigen, die unter den deutschen Verbrechen gelitten haben, werden immer weniger. Und damit auch der Kreis von Menschen, die auf einer Entschädigung beharren.
Doch auch die Antifaschist*innen vom AK Distomo lassen nicht locker. Zum 80. Jahrestag des Massakers sind sie wieder in Griechenland und besuchen Angehörige von Opfern, zu denen sie freundschaftliche Kontakte pflegen.
Bereits am 4. Juni beteiligte sich die zehnköpfige Gruppe an einer Kundgebung vor der deutschen Botschaft in Athen beteiligt, bei der die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke drei zentrale Forderungen formulierte: »Deutschland muss alle Opfer des Nationalsozialismus entschädigen! Nazi-Verbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht vergessen! Gemeinsamer Kampf gegen den wiedererstarkenden Faschismus in Europa!«
Der AK Distomo habe indes momentan keine Ansprechpartner*innen im deutschen Bundestag, sagte Anwalt Klingner »nd«. Vor neun Jahren war das noch anders. Damals versuchte sich die neu gewählte links-sozialdemokratische Syriza-Regierung vom Diktat der Austeritätspolitik der EU zu befreien, für die die deutsche Regierung maßgeblich verantwortlich war.
In Deutschland inszenierten konservative Politiker*innen und Medien wie »Bild« damals eine Kampagne gegen die »Pleite-Griechen«, für die es keine EU- Gelder geben dürfe. Damals erinnerten Mitglieder der griechischen Regierung Berlin daran, dass Deutschland eigentlich Schulden bei Griechenland hat.
Der damalige Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel wies im April 2015 die damals von der griechischen Regierung erhobene Forderung nach insgesamt 279 Milliarden Euro als Wiedergutmachung für die NS-Verbrechen brüsk zurück. Die Reparationsfrage sei juristisch erledigt, und es sei »dumm«, Entschädigungsforderungen mit den laufenden Verhandlungen über Kredithilfen zu vermischen, erklärte der SPD-Politiker damals.
Der AK Distomo und etliche Experten halten die Forderungen indes nach wie vor für berechtigt, betont Klingner. Große Teile der gesellschaftlichen Linken in Deutschland haben das Interesse an dem Thema indes verloren, nachdem die griechische Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras sich dem Austeritätsdiktat unterworfen hatte und die Entschädigungsforderungen nicht weiter verfolgte.
Doch für die Angehörigen der Opfer von Distomo ist der Kampf noch nicht zu Ende. Hoffnung machte ihnen erneut die italienische Jusitz. Anfang März dieses Jahres entschied das Berufungsgericht in Rom, dass der Fall Distomo in Italien fortgeführt werden kann. »Dies ist ein großer Erfolg, nachdem es zuletzt so aussah, als sei das Verfahren auch in Italien beendet«, sagt Anwalt Klingner.
In Griechenland wurde kürzlich die Ausstellung »23 Jahe AK Distomo« eröffnet, die den Kampf der Antifaschist*innen doumentiert. Zur Zeit gibt es Überlegungen, eine solche Austellung auch in Deutschland zu zeigen. Sie könnte ein Startschuss für eine neue Kampagne für die Entschädigung aller NS-Opfer sein.
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