Anne-Frank-Tag in Berlin: Geschichte auf der Spur

Den bundesweiten Tag gegen Antisemitismus und Rassismus eröffnen Pankower Schüler*innen, die lokalhistorisch forschen

Seit 1994 engagieren sich Pädagog*innen im Anne-Frank-Zentrum in Berlin-Mitte für demokratiebildende Jugendarbeit.
Seit 1994 engagieren sich Pädagog*innen im Anne-Frank-Zentrum in Berlin-Mitte für demokratiebildende Jugendarbeit.

»Möchten Sie eine Anne-Frank-Zeitung mitnehmen?«, fragen zwei Schüler*innen am Eingang des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums in Pankow, im Ortsteil Prenzlauer Berg. Sie haben einen dicken Stapel Zeitungen für die Presse bereitgelegt. In der 15-seitigen Ausgabe, deren Herausgeber unter anderem das Berliner Anne-Frank-Zentrum ist, wird nicht nur die Geschichte der berühmten Jüdin mit dem fröhlichen Gemüt erzählt. Ein Interview mit der Holocaust-Überlebenden Ruth Winkelmann (96 Jahre alt) und historische Interviews des Soziologen Theodore Abel finden darin Platz. Abel sprach mit mehr als 600 frühen NSDAP-Mitgliedern zur Frage ihres Beitritts in die Partei.

Im Käthe-Kollwitz-Gymnasium sind am Mittwochmorgen nicht nur zahlreiche Pressevertreter*innen erschienen. Gekommen sind auch Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD), Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), die niederländische Kulturbotschaftsrätin Yolande Melsert und die Zeitzeugin Ruth Winkelmann. Denn das Gymnasium eröffnet den bundesweit stattfindenden Anne-Frank-Tag anlässlich ihres 95. Geburtstags. An 550 Schulen findet dieser damit zum 8. Mal als Aktionstag gegen Antisemitismus und Rassismus statt.

»Der Geschichte auf der Spur« lautet das diesjährige Motto. Zwei Schüler*innen der 11. Klasse haben das bereits in die Tat umgesetzt: Zusammen mit ihrer Geschichtslehrerin forschten sie zu jüdischem Leben im Bezirk Pankow. »Was ganz interessant ist an der Spiekermannstraße: Dort hat eine jüdische Familie gewohnt, die dann deportiert wurde. Doch im Internet findet sich eigentlich nichts dazu«, erklärt eine der beiden Schülerinnen. Neben dem Wohnhaus in der Spiekermannstraße besuchte sie den Wasserturm im Kollwitzkiez: Die Kellerräume des heutigen Wohnhauses nutzte die SA im Frühjahr 1933 als sogenanntes wildes Konzentrationslager, um Kommunist*innen, Sozialist*innen und Jüd*innen zu foltern. Eine Tafel am Wasserturm erinnert noch heute an die Nazi-Vergangenheit des Ortes. »Man kann sie aber auch sehr leicht übersehen, wenn man nicht explizit danach sucht«, sagt die historisch engagierte Schülerin auf der Bühne. Die Geschäftsführerin der Pankower Gedenktafel berichtet »nd«, dass die Erinnerungsstele an die NS-Geschichte des Wasserturms in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar unwiderruflich zerstört wurde. Die Kommission arbeite nun mit dem Straßen- und Grünflächenamt an einem schnellstmöglichen Ersatz.

Ihre Mitschülerin, ebenfalls auf der Bühne stehend, erzählt vom Judengang zwischen Senefelder- und Kollwitzplatz. Historisch nicht eindeutig belegt, wozu der 400 Meter lange Gang diente, steht dieser heute unter Denkmalschutz und ist nur bei Führungen und für seine direkten Anwohner*innen besuchbar. Die Schülerin forschte außerdem am Erinnerungsort an das Auerbach’sche Waisenhaus in der Schönhauser Allee: Bis 1942 bot es Schutz für jüdische Kinder. »Ich fand es sehr eindrücklich, direkt vor Ort zu sein und sich vorzustellen, wo die Kinder gespielt haben, die dann ermordet wurden«, sagt sie.

Direkt vor Ort ist auch die Holocaust-Überlebende Ruth Winkelmann. In der Nähe von Berlin geboren, fuhr sie bereits als sechsjähriges Kind allein mit der S-Bahn von Birkenwerder zum Stettiner Bahnhof (heute Nordbahnhof), um die jüdische Schule in der Auguststraße zu besuchen. Sie erlebte die Pogrome im Scheunenviertel und musste Zwangsarbeit leisten. »Zwölf Stunden täglich musste ich als 14-Jährige arbeiten«, sagt sie im Interview mit zwei Schülern auf der Bühne. Auf die Frage der Schüler nach der Botschaft, die die Holocaust-Überlebende für sie habe, antwortet Winkelmann mit Toleranz: »Wer tolerant ist, hasst und zerstört auch nicht.«

Toleranz ist auch das Motto einer Arbeitsgemeinschaft am Käthe-Kollwitz-Gymnasium. Zwei Schüler*innen berichten auf der Bühne, dass die AG Zeitzeug*innen interviewt habe und der Schule den Titel »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« gebracht habe. Die AG habe die Patenschaft für Stolpersteine übernommen und setze sich auf dem Instagram-Kanal »Religion4u« für interreligiösen Dialog ein.

Von Dialog spricht außerdem die niederländische Kulturbotschaftsrätin Yolande Melsert in ihrem Grußwort. »Wer auf Social Media unterwegs ist, dessen Leben wird mehr und mehr von Algorithmen beeinflusst.« Bewusst müsse man sich sein, dass jeder*r so Nachrichten erhalte, die zur eigenen Meinung passen. Melsert wünscht sich mehr Dialoge, in denen man nicht immer einer Meinung sein müsse, aber freundlich miteinander umgeht – so wie muslimische und jüdische Schüler*innen es in einem Amsterdamer Projekt täten. Sie erinnert zudem an die Kontinuität von Flucht und Kriegen in der Gegenwart.

Bundesjustizminister Buschmann und der Sozialsenatorin Kiziltepe erinnern in ihren Grußworten an die Gegenwart von Rassismus und Antisemitismus. Buschmann spricht von der Zäsur des 7. Oktober: Seitdem wurden in Berlin mehr antisemitische Vorfälle gemeldet als je zuvor.

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