Mitschuld des Globalen Nordens an Flüchtlingskrise

UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR verzeichnet Höchststand bei der Zahl von Geflüchteten

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 4 Min.

Weltweit sind 120 Millionen Menschen vertrieben oder auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Sie fliehen vor Hunger, Krieg und Verfolgung – nicht, weil sie sich frei dafür entscheiden. Trotzdem ist das Verständnis für Geflüchtete und Fluchtgründe gering, die punktuelle Hilfe des Globalen Nordens mehr Kosmetik als Kur. Das zeigt sich dieser Tage, wenn Abschiebungen in Länder gefordert werden, aus denen Menschen fliehen müssen, weil die Lage dort lebensgefährlich ist.

Pech gehabt, könnte man sagen, am falschen Ort auf die Welt gekommen. Doch Krisen sind kein isoliertes Phänomen der betroffenen Länder. In Afghanistan In Afghanistan haben zahlreiche Staaten durch Militärinterventionen die Voraussetzungen geschaffen für den Zusammenbruch des Staates, sodass die Menschen zur Flucht gezwungen waren, angefangen bei der Sowjetunion bis zu den Nato-Staaten und den USA. Für den Klimawandel, der Menschen die Lebensgrundlagen entzieht, ist der Globale Norden hauptverantwortlich. Er trägt also eine Mitschuld am Flüchtlingsdrama. In dieser Situation die humanitäre Hilfe zusammenzustreichen, ist kurzsichtig und verantwortungslos.

Die Liste der Staaten, in denen sich imperialistische Großmächte, Nachbarländer, internationale Organisationen oder private Milizen gedankenlos, oder besser gesagt, aus egoistischen Nutzenerwägungen einmischen oder an internen Konflikten mitmischen, ist lang: Syrien, Irak, Ukraine, Sudan, Libyen, Palästina, um nur einige der jüngeren Beispiele zu nennen. Politische, ökonomische und ökologische Krisen produzieren Elend, Gewalt, Krieg und damit auch Flüchtlinge. Das ist so banal wie richtig.

Die Ironie ist, dass gut zwei Drittel der Menschen innerhalb des eigenen Heimatlandes auf der Flucht sind, also nie die Landesgrenzen überschreiten, um zum Beispiel in Europa Schutz zu suchen. Doch hat sich der falsche Eindruck verfestigt, Migranten und Flüchtlinge würden vor allem in reiche Länder strömen; dafür fehlen ihnen schlicht die Mittel. »75 Prozent derjenigen, die vertrieben werden, im eigenen Land oder ins Ausland, leben in armen Ländern oder solchen mit mittleren Einkommen«, sagt der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. Die meisten Menschen harren nach der Flucht in Nachbarländern in der Hoffnung aus, zügig in ihre Heimat zurückkehren zu können.

Das heißt die reichen Länder, also die Mitverursacher der Fluchtgründe bekommen die Folgen ihres Handelns nicht einmal zu sehen, während die nahegelegenen Länder, in denen Flüchtlinge meist Schutz suchen, häufig so arm sind, dass die Unterstützung der Schutzbedürftigen eine große Last darstellt für Wirtschaft und Gesellschaft. Beispiele dafür sind der Libanon oder Jordanien, die eine enorme Zahl syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben, aber ökonomisch der Aufgabe nicht gewachsen sind.

Interventionen in andere souveräne Staaten bleiben kurz- und mittelfristig zumeist folgenlos für den Interventionsstaat, insbesondere wenn es sich nicht um einen Nachbarstaat handelt. Syrische Flüchtlinge gehen im Zweifelsfall eben nicht nach Russland, Iran oder in die USA, oder schaffen es nicht dorthin. Und die, die es nach Europa geschafft haben, sollen nun abgeschoben werden: weil man genug von ihnen hat, weil sie eine Straftat begangen haben, weil, weil, weil ...

Wer einen Schutzstatus erlangt hat, kann nicht einfach zur Manövriermasse politischer Auseinandersetzungen im Aufnahmeland degradiert werden. Doch die Richtung scheint vorgezeichnet: Europa mauert sich immer mehr ein, zieht die Mauer um die Außengrenzen immer höher, zahlt viel Geld an Diktatoren und Autokraten, damit diese potenzielle Flüchtlinge von der Flucht in den gelobten Kontinent Europa abhalten. Globale Verantwortung sieht anders aus.

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